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BetDenkzettel sind kurze Bet- und Denkanstöße von Fra' Georg Lengerke - in der Regel zu einem Wort aus den Schriftlesungen der Liturgie vom Tag
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Besser oder schlimmer?

BetDenkzettelFeb 28, 2019

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02:25
Heute kommt die Verschwendung (Palmsonntag) Mk 14,7

Heute kommt die Verschwendung (Palmsonntag) Mk 14,7

Während meines Theologiestudiums war ich bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Sie hatten zwei Töchter von vielleicht 13 und 15 Jahren. Vor dem Essen sagt die Mutter in der Küche: „Die Mädchen haben Dir übrigens einen Spitznamen gegeben.“ „Ach so?“ frage ich amüsiert. „Ja, beim Frühstück sagten sie: Heute Abend kommt die Verschwendung.“

Das war ein liebevoll-spöttisches Kompliment von Teenagerinnen an einen Spätzwanziger, dass dieser nicht bloß aus Mangel an Alternativen Priester werden wollte. Ich gestehe, dass ich damals für ein solches Kompliment nicht unempfänglich war.

Aber eigentlich ist „Verschwendung“ kein positiv konnotierter Begriff. Sie besteht in einer unverhältnismäßigen, vergeblichen Ausgabe oder Verausgabung. Sie ist ökologisch, wirtschaftlich oder gesundheitlich nicht zu verantworten. Und sie gehört zur Luxuria, der Wollust, einem der Hauptlaster des klassischen Lasterkataloges.

Die Neckerei der Mädchen hatte mich gefreut. Aber sie erinnerte mich zugleich an eine ernste Lebensfrage. War mein Leben nicht vielleicht wirklich eine Verschwendung? Bedeutete die Entscheidung, Priester und nicht Rechtsanwalt zu werden, ein Erbe nicht anzutreten, das Mädchen, das ich lieb hatte, nicht zu heiraten, keine Kinder und keine Familie zu haben, nicht doch eine vergebliche Vergeudung meines Lebens? Hatte ich mein Leben für einen Irrtum, schlimmstenfalls für eine Ideologie und Pfaffenlüge eingesetzt? Später wurden mir solche Fragen von anderen auch weniger freundlich gestellt.

Am Beginn der Heiligen Woche wird am Palmsonntag die Leidensgeschichte Jesu gelesen. Vor dessen Ankunft in Jerusalem erzählt Markus von einer Begegnung in Betanien bei der eine Frau (bei Johannes ist es Maria, die Schwester der Freunde Jesu Marta und Lazarus) mit einem Alabastergefäß von „echtem, kostbarem Nardenöl“ an Jesus herantritt und ihm das Haupt salbt.

„Wozu diese Verschwendung?“, murren die Jünger Jesu. „Man hätte das Öl um mehr als dreihundert Denáre verkaufen und das Geld den Armen geben können.“

Warum Öl im Wert des Jahresgehalts eines Arbeiters für eine scheinbar sinn- und folgenlose Geste? Warum erlesenste Körperpflege für einen, der Einfachheit gepredigt hat und sowieso bald sterben wird? Warum tut jemand so was?

Nun, zunächst möglicherweise einfach so. Die Liebe braucht kein Wozu. Die Liebe bezweckt nichts. Es geht ihr nur um den Anderen – um seiner selbst willen. Sie sagt: Du bist es wert.

Dann ist es aber auch ein Akt der Verehrung über alles menschlich zu Rechtfertigende hinaus. Der so Verehrte ist nicht einer unter vielen. Er ist unvergleichlich. Eine solche Ehre kommt nur Gott zu.

Jesus selbst gibt einen weiteren Grund: „Sie hat im Voraus meinen Leib für das Begräbnis gesalbt.“ Hingerichteten Verbrechern wurde die rituelle Salbung vor dem Begräbnis verwehrt. Vor seinem Sterben erlaubt Jesus Maria diesen letzten Liebesdienst.

Und Maria erwidert damit die Liebe Jesu. Sie will verschwenderisch lieben wie er. Und sie will zeigen: Dein Leben und Sterben ist die maßlose Liebe Gottes zu uns, die nicht vergeblich ist und die uns sagt: Ihr seid es wert.

Jesus ergänzt ein Wort, das bis heute eine Provokation darstellt: „Die Armen habt ihr immer bei euch […]; mich aber habt ihr nicht immer.“ Jesus spielt seine Gegenwart damit nicht gegen die der Armen aus. Aber er erinnert uns, über die Armen seine Gegenwart nicht zu vergessen. Denn sie ist die Gegenwart der Liebe Gottes zu den Armen. Ihm die Ehre geben, heißt dem die Ehre geben, dessen Liebe zu den Armen der unseren vorausgeht, sich in unserer offenbaren will und über unsere Liebe hinausgeht.

Ich denke noch heute manchmal an den Scherz der beiden Mädchen. Sie erinnern mich daran, dass es im Leben der Christen darum geht: dass sie mit Christus als verschwenderisch Geliebte verschwenderisch lieben. Wenn ich das versuche, dann wird mein Leben hoffentlich eine Verschwendung, aber gewiss nicht vergeblich gewesen sein.

Fra' Georg Lengerke


Mar 24, 202404:59
Don’t beam me up, Scotty – Beam mich hier nicht raus Joh 12,20-33

Don’t beam me up, Scotty – Beam mich hier nicht raus Joh 12,20-33

„Beam me up, Scotty!” Der Satz gilt als das berühmteste Zitat aus der Serie „Raumschiff Enterprise“. In der Science-Fiction-Serie befindet sich Captain Kirk auf einem Planeten und bittet seinen Chefingenieur Scott, ihn durch „Teleportation“ (also durch Zerlegung hier und Rekonstruktion dort in Sekundenschnelle vermittels Strahlen) wieder ins Raumschiff zurück zu „beamen“. Seither wird es scherzhaft als Wunsch verwendet, aus einer mühsamen oder aussichtslosen Situation augenblicklich herausgeholt und befreit zu werden.

Im Science-Fiction ist das der Befehl an den Chefingenieur. In der irdischen Welt entspricht dem die flehentliche Bitte an Mensch und Gott: „Rette mich!“ und: „Reiß mich heraus!“ (Ps 71,2; 144,7)

Im Johannesevangelium ist für Jesus nach dem Einzug in Jerusalem dieser Moment gekommen. Alle Entscheidungen um ihn herum sind gefallen. Jesus ist im Innersten erschüttert. Und er formuliert die letzte Entscheidung, die noch aussteht: „Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?“

Das ist ein wichtiger Moment: Bevor Jesus darum bittet, aus dieser Situation gerettet zu werden, fragt er: „Was soll ich sagen?“ Soll ich darum bitten, aus dieser Situation herausgenommen zu werden? Ist gerettet werden das, worum es jetzt geht? Ist es das, was der Vater von mir und für mich will?

Im Gebet geht es vor der Bitte um Rettung darum, nach dem Willen Gottes – also nach dem Gerechten, Guten und der Liebe Gemäßen – zu fragen. Deshalb wird im Vaterunser zuerst um die Erfüllung des Willens Gottes und erst dann um das tägliche Brot gebetet.

„Soll ich sagen: Vater rette mich aus dieser Stunde?“, fragt Jesus. Das ist eine echte Frage. Jesus hätte das nämlich tun können. Einem seiner kampfbereiten Jünger sagt er vor seiner Verhaftung: „Glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?“ (Mt 26,53) Aber er bittet nicht um zwölf Legionen Engel. Er bittet nicht um Rettung aus dieser Stunde. Warum nicht?

„Deshalb bin ich in diese Stunde gekommen“, sagt er. Und bittet: „Vater, verherrliche deinen Namen.“ Das bedeutet: Ich bin in diese Stunde gekommen, damit der Vater da, wo ich bin, und indem ich da bin, wo ich bin, seinen Namen verherrlicht.

Der unaussprechliche „Name“ Gottes steht für seine Anwesenheit, seine Ansprechbarkeit und sein Wirken dort, wo „sein Name wohnt“ (Jes 18,7). Vater, offenbare deine Ansprechbarkeit und dein Wirken!, bittet Jesus hier.

Jesus entzieht sich nicht. Er bleibt. Er hat erkannt: Der Vater braucht ihn gerade hier und gerade jetzt. Er hat hier und jetzt einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt und den keiner statt seiner erfüllen kann. Hier und jetzt ist er die Stelle, in der die Liebe Gottes sich als treu erweist. Auch in allem Hass, der ihn treffen wird. Auch im Sterben. Auch im Tod und durch den Tod hindurch.

An diesem Wochenende bin in einem Seminar zum Thema Zeugnis. Kann das sein, dass mein Zeugnis ist, zu bleiben – und darauf zu verzichten aus dieser oder jener mühsamen oder gar gefährlichen Situation herausgenommen zu werden?

Jesus ist die Stelle der Offenbarung Gottes. Und alle, die zu ihm gehören, sollen es mit ihm werden. Für sie geht es nicht mehr nur darum, dass Gott bei ihnen ist. Sondern darum, dass sie bei Gott sind. „Wo ich bin, dort wird auch mein Jünger sein“, sagt Jesus.

„Beam me up, Scotty!” – Die Sache ist die, dass Captain Kirk diesen Satz in der Serie (1966-1969) so nie gesagt hat. Erst 1986, als es schon eine stehende Redewendung ist, greift Captain Kirk den Satz im Spielfilm Star Trek IV auf.

Im Original sagt Captain Kirk: „Two to beam up, Scotty“. Das ähnelt schon eher dem Gebet, das Jesus mit uns einmal beten wird: „Hier sind zwei, die gerettet werden sollen.“ Der Vater holt uns raus aus dem Tod. Zusammen mit dem Sohn. Wenn die Aufgabe erfüllt, der Dienst getan, das Wort gesagt und die Liebe am Ziel ist. Das hat er versprochen.

Fra' Georg Lengerke


Mar 17, 202405:11
Nicht nur lebend, sondern lebendig! Eph 2, 4–10

Nicht nur lebend, sondern lebendig! Eph 2, 4–10

Einem befreundeten Priester, der existentiell erschöpft war, sagte sein Bischof vor einiger Zeit: „Ich will Sie nicht nur lebend, ich will Sie lebendig.“ Das war nicht nur ein freundlich-ermutigendes Wortspiel, sondern die Beschreibung eines grundsätzlichen Unterschieds.
Was lebend ist, ist nicht tot. Die Biologie bezeichnet materielle Erscheinungen als lebend, die sich durch Stoffwechsel, Replikation und Mutabilität von der unbelebten Umwelt unterscheiden (A. I. Oparin). Die einzelnen Kriterien, um von einem lebenden Menschen zu sprechen, sind umstritten. Aber Einigkeit besteht darin, dass ein Mensch lebt, wenn sein Herz schlägt und seine Zell- und Nervenfunktionen intakt sind.
Damit ist der Mensch aber noch nicht lebendig. Von der Lebendigkeit eines Menschen sprechen wir, wenn er in Bewegung ist und es ihm um etwas geht, wenn er mit seiner Umwelt kommuniziert und sie gestaltet, wenn er sein Leben nicht nur „erlebt“, sondern sein Leben „führt“.
Der Unterschied zwischen lebend und lebendig wird von Menschen sehr leidvoll erlebt. Wer erschöpft oder verzweifelt ist oder sein Leben als fremdbestimmt erfährt, der spricht nicht selten davon, er „werde gelebt“, er „funktioniere“ bestenfalls noch oder sei „lebendig tot“. Es gibt Krisen, in denen kommt es Menschen so vor, als bliebe ihnen vom Leben nur noch die organische Funktion. Sie erfahren sich als „geistig tot“, als wären sie abgeschnitten vom lebendigen Leben, das eine Richtung hat, die ihm Sinn gibt.
„Ich will Sie nicht nur lebend, ich will Sie lebendig.“ sagte der Bischof; und mag damit gemeint haben: Ich will, dass Sie nicht nur funktionieren, sondern gestalten, dass sie nicht nur reagieren, sondern agieren, nicht nur Reflexe zeigen, sondern Antworten geben.
Paulus beschreibt die Wende, die für ihn der Glaube an Christus und die Verbundenheit mit ihm bedeutet, mit ähnlichen Bildern: „Gott, der reich ist an Erbarmen, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus lebendig gemacht.“ (Eph 2,4)
Sünde ist für Paulus mehr als bloß eine moralische Kategorie. Sie bedeutet die Trennung von Gott, der das lebendige Leben ist. Wer diese Trennung erfährt, der erfährt sich als geistlich tot.
Wie also rauskommen aus dieser Trennung? Wie den Schritt gehen aus dem bloßen Dahinleben in die Lebendigkeit der Beziehung zu den Geschöpfen und ihrem Schöpfer, zur Wirklichkeit und ihrem Grund?
Für den Freund, den sein Bischof nicht nur lebend, sondern lebendig wollte, war das möglich durch eine Veränderung seines Arbeitsauftrages und durch einen veränderten Umgang mit dessen Gegebenheiten und Herausforderungen.
Für beides brauchte es Menschen, die sich in ihn hineinversetzt haben: der Bischof, der wusste, wie es ist, zwar noch lebend aber nicht mehr lebendig zu sein, und Freunde und Ratgeber, die ihm halfen, zu einer wirklichkeitsgemäßen Wahrnehmung seiner Rolle und Verantwortung zu kommen und die eigene Berufung neu hören und beantworten zu können.
Dasselbe beschreibt Paulus auf einer noch existentielleren Ebene. In Jesus Christus versetzt sich Gott in uns Menschen hinein. Nicht nur in unser Empfinden, Denken und Urteilen, sondern auch in die Erfahrung des Getrenntseins vom Leben. Dieses Getrenntsein erfährt Jesus Christus an unserer Stelle nicht nur geistig (intellektuell) und geistlich (spirituell), sondern auch leiblich, indem er im physischen Tod die Trennung vom Leben erleidet.
Paulus glaubt an Christus, gehört zu ihm, kommuniziert mit ihm. Die Auferstehung Christi ist für Paulus die Rettung aus dem Tod ins Leben und aus dem Dahinleben in die Lebendigkeit.
„Das war meine Rettung“, sagt der Freund neulich in seiner neuen Pfarrei rückblickend und lächelt erleichtert. Und ich denke mir, dass so ähnlich der hl. Paulus geguckt haben mag, als er den Ephesern schrieb: „Gott hat uns mit Christus lebendig gemacht.“
Fra' Georg Lengerke
Mar 10, 202404:58
Händlerin oder Offenhalterin? Joh 2,13-25

Händlerin oder Offenhalterin? Joh 2,13-25

In manchen Kirchen ist der Eingangsbereich ein Kampfplatz. Zum einen finden sich da vom Pfarrbüro angebotene Pfarrbriefe und Zeitschriften, Postkarten und Eine-Welt-Artikel. Zum anderen platzieren dort opponierende Aktivisten ihre eigenen und entfernen die gegnerischen Postillen – die einen mit Szenarien eines verdienten apokalyptischen Weltuntergangs, die anderen mit Aufrufen zu dessen ökopolitischer Verhinderung.

Früher habe ich angesichts solcher Scharmützel und zugeräumter Eingänge häufig an die Schriftstelle von der Tempelreinigung gedacht: Jesus wirft die Händler, die Rinder und Schafe für den Opferkult verkaufen, und die Geldwechsler aus dem Jerusalemer Tempel. „Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!“

In der folgenden Auseinandersetzung wird jedoch deutlich, dass es um mehr geht als um die Würde eines heiligen Ortes. Auf die Frage, was für ein Zeichen er vorweisen könne, dass er das dürfe, spricht Jesus davon, dass er den niedergerissenen Tempel „in drei Tagen wieder aufrichten“ werde. „Er aber meinte den Tempel seines Leibes“, ergänzt der Evangelist. Es geht nicht bloß um das Gebäude. Es geht um die Gegenwart Gottes in der Welt. Und für die steht zunächst der Tempel in Jerusalem. Hier wird die Stelle frei- und die Welt offengehalten für die geheimnisvolle und unbegreifliche Gegenwart Gottes. Und Jesus behauptet nun nicht weniger, als dass diese Gegenwart in ihm personal und unüberbietbar in die Welt gekommen sei.

Für die frühen Theologen der Kirche war die Tempelreinigung eine vorweggenommene Kirchenkritik: „Die Händler in der Kirche sind die, welche ihren Vorteil suchen, nicht das, was des Herren ist“, schreibt Augustinus. Und für Beda Venerabilis sind es die, welche die ihnen verliehene „Gnade des Heiligen Geistes […] um der Gunst der öffentlichen Meinung willen (lat.: ad vulgi favorem)“ und nur gemäß ihrer eigenen Vorliebe weitergeben.

Wir dürfen mit Gott nicht Handel treiben. Weder indem wir das, was wir ihm geben, mit dem verrechnen, was wir von ihm bekommen. Noch indem wir das Seine anderen weitergeben, um uns daran letztlich zu bereichern.

Aber auch die Kirche als ganze darf nicht zum Markt oder zur Händlerin auf demselben werden. In der Gefahr ist sie überall dort, wo sie nur noch als Anbieterin sozialer oder spiritueller Dienstleistungen wahrgenommen wird. Als solche ist sie in Deutschland die zweitgrößte Arbeitgeberin nach dem Staat. Und laut Statistik waren 2022 in der evangelischen Kirche und ihren Einrichtungen bereits mehr Menschen angestellt als sonntags in die Kirche gehen. In der katholischen Kirche wird das absehbar auch so sein.

Es ist gut und notwendig, dass Menschen für die Kirche arbeiten. Wo wären wir ohne sie? Auch ich gehöre zu ihnen. Und es gehört zum Wesen der Kirche, dass sie den Menschen dient.

Aber wozu dient sie eigentlich? Wenn die, denen die Kirche Geld gibt, mehr sind als die, denen sie das Wort Gottes gibt, wenn sie mehr Arbeitgeberin als Sinngeberin, mehr Markthändlerin als Offenhalterin für die Gegenwart Gottes ist, dann ist sie in eine Schieflage gekommen, in der ein Boot längst gekentert wäre. Und die ist einer der Gründe, warum viele Gottsucher sich gelangweilt abwenden von einer Kirche, die keine sein will.

Ich weiß nicht, wie sich das grundsätzlich ändern soll. Außer spätestens dann, wenn uns entweder das Geld ausgeht oder wir uns vollends unerkennbar gemacht haben und eine neue Tempelreinigung beginnt.

Bis dahin frage ich mich und die um mich herum, was denn die Kirche für uns ist? Eine Dienstleisterin, von der wir erwarten, dass sie liefert? Oder ein lebendiges Gefüge, zu dem die Christen gehören, wie die Glieder zu einem Leib?

Heute bitte ich darum, dass Jesus Christus mir meine Marktplatz-Erwartungen an die Kirche austreibt, wie die Händler aus dem Tempel, und mich daran erinnert, dass ich zu seinem auferstandenen Leib gehöre, um mit ihm für die Menschen da zu sein.

Fra' Georg Lengerke

Mar 03, 202404:53
Kann man Worte festhalten? Mk 9,2-10

Kann man Worte festhalten? Mk 9,2-10

Es gibt Worte, die vergesse ich nicht. Worte von Menschen, die mich lieben. Worte von Fremden, die überraschende Antwort auf brennende aber ungestellte Fragen waren. Worte der Bibel, die mir nie auffiehlen und dann in einer bestimmten Situation mit einem Mal eine ungeahnte Bedeutung bekamen.

Drei der Jünger Jesu (Petrus, Jakobus und Johannes) haben auf einem Berg eine verstörende Erfahrung gemacht. Sie sehen Jesus für einen Augenblick in einer verwandelten Gestalt, die die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrung sprengt. Er strahlt auf irdisch unbeschreibliche Weise. Er spricht mit Mose und Elija. Die sind längst verstorben. Aber für ihn sind sie lebendig. Die einst von Jesus sprachen, sprechen nun mit Jesus.

Beim Abstieg verbietet Jesus ihnen, von dieser Erfahrung zu erzählen, bis er von den Toten auferstanden sei. Und dann schreibt der Evangelist: „Dieses Wort beschäftigte sie und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen.“

Für mich ergeben sich daraus drei konkrete Fragen für die Zeit auf Ostern zu:

1. Welches Wort halte ich fest?

Im Griechischen steht da: „Dieses Wort hielten sie fest.“ Wir hören und lesen auf verschiedensten Wegen so viele Worte, wie keine Generation vor uns. Umso wichtiger wird es, nach ihrer Wahrheit, ihrer Güte und ihrer Relevanz zu fragen. Und danach, welche Worte ich festhalte und welche ich zurücklasse, welchen Worten ich Macht gebe, und welche ich zurückweise.

Es können auch verstörende Worte sein, die ich dennoch festhalten soll. Worte, die ich zunächst nicht richtig verstehe, die Zeit brauchen, um von mir angenommen und verstanden, geglaubt und beantwortet und in meinem Leben wirksam zu werden.

Während der Verklärung Jesu hören die Jünger eine Stimme sagen: „Dieser ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.“ Unmittelbar, wenn er spricht. Mittelbar, wo immer einer von ihm, in seinem Namen oder in seinem Geist spricht.

Welches Wort von ihm oder den Seinen habe ich mal festgehalten, und es ist Zeit mich daran zu erinnern? Welches Wort von ihm will nicht verlieren? Oder wie kann ich überhaupt wieder hören, was er mir sagen will?

2. Was hilft mir, zu schweigen?

Es gibt verschiedene Gründe, warum Jesus Menschen einschärft, einstweilen nicht von dem zu erzählen, was sie von ihm gehört oder mit ihm erlebt haben. Hier wird es vermutlich die Tatsache sein, dass die Bedeutung der Verklärung auf dem Berg erst an Ostern ganz erkannt wird. Erst wenn sie den Auferstandenen sehen und hören, werden sie verstehen, dass Jesus der ist, von dem Mose und Elija gesprochen haben und der auch die Hoffnung und Erfüllung ihres Lebens ist.

Und bis dahin sollen sie das Gesehene und Gehörte nicht herumerzählen. Was wir – kaum, dass wir es erfahren haben – gleich weitererzählen, das verteilt sich nicht nur, sondern verfestigt sich auch. Oft noch ganz unverstanden, als eine Sensation oder Irritation, der gleich die nächste folgen wird.

Was wir erzählt haben, ist unwiderruflich in der Welt. Es kann sich in uns auch nicht mehr „entpuppen“ und jene Wirksamkeit entfalten, die nur im Verborgenen möglich ist.

3. Mit wem kann ich nach der Auferstehung fragen?

Das eine, was es braucht, ist Diskretion. Das andere ist das Gespräch mit denen, die mit mir glauben. Die Jünger, erzählt Markus, „fragen einander, was das sei, von den Toten auferstehen“.

Das ist für viele Christen eine Not. Sie trauen sich nicht, nach dem zu fragen, wovon sie meinen, sie müssten es längst wissen. Oder sie würden gerne fragen, finden aber niemanden, den sie fragen können. Und nicht selten halten sie bald das, wovon man scheinbar nicht reden kann, dann doch nicht für ganz so wichtig.

Wo sind die Menschen, mit denen ich nach dem Wort Jesu fragen und es hören kann? Wo sind die, mit denen ich schweigen kann und die mir helfen, jene Diskretion zu üben, die es zum Verstehen und Wirksamwerden des Wortes Gottes braucht? Und wo sind die, mit denen ich nach der Auferstehung Jesu und nach unserer Auferstehung fragen kann?

Fra' Georg Lengerke

Feb 25, 202410:49
Hat Euch die Taufe gerettet? 1 Petr 3,18-22

Hat Euch die Taufe gerettet? 1 Petr 3,18-22

Diese Woche besuchten mich der Vater und der designierte Pate eines Täuflings. Wir sprachen über die Taufe im Allgemeinen und die Rolle des Paten im Besonderen. Das war ein schönes Gespräch. Dennoch überkam mich eine gewisse Verlegenheit.

Die gleiche Verlegenheit empfinde ich bei der heutigen Lesung aus dem Ersten Petrusbrief. Sie sagt uns, dass Jesus Christus in den Tod hinabsteigt, um den Toten das Wort des Lebens zu bringen. Auch die, für die die Sintflut den Tod bedeutete, sollen ins Leben bei Gott kommen. Und dann heißt es: „Dem entspricht die Taufe, die jetzt euch rettet.“

Aber wer von uns Heutigen würde sagen, die Taufe habe ihn „gerettet“? Die allerwenigsten von uns können sich erinnern oder haben sich entschieden, getauft zu werden.

Die Texte der frühen Kirche über die Taufe erzählen uns, was für eine radikale Wende im Leben der frühen Christen die Taufe gewesen sein muss. Für Erwachsene, die sich taufen lassen, ist sie das oft auch heute noch. Es ist eine Veränderung in der ganzen Lebensrichtung auf Gott hin, eine Veränderung der Sicht auf alles und jeden mit dem Blick Jesu, die Annahme und der Mitvollzug einer nicht gekannten Liebe, die durch den Tod geht, und das Versprechen einer Freude, die die Welt nicht geben kann.

Die Taufe ist die konkrete und individuelle Ausdrucksform des Bundes mit Gott. Gott verbindet sich in seiner Menschwerdung mit jedem Menschen. Und wer Christ wird, nimmt in der Taufe dieses Geschenk an. Er bekennt seinen Glauben an Jesus Christus und lässt sich im Sakrament von ihm hineinnehmen in sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung. Und von da an lebt er mit dem Auferstandenen und in der Zeugnisgemeinschaft derer, die an ihn glauben.

Bei der Kindertaufe wurde unser Teil des Bundeschlusses von Eltern und Paten stellvertretend wahrgenommen. Weil sich das Bewusstsein durchsetzte, den Kindern aus christlichen Familien die sakramentale Gemeinschaft mit Christus nicht vorenthalten zu wollen.

Diejenigen, die mit dem Glauben an Christus aufgewachsen sind und denen er glaubwürdig und liebevoll vermittelt wurde, konnten in eine Bejahung immer mehr hineinwachsen. In der Firmung haben sie es dann selbst gesprochen. Für diejenigen jedoch, die später nur wenig oder nichts oder nichts Gutes mehr von Gott gehört haben, muss die Kindertaufe heute als eine liebgemeinte Irrelevanz oder eine respektlose Vereinnahmung vorkommen. Aber die Erfahrung, dass die Taufe eine „rettende“ Wende im Leben bedeutet, geht den meisten Christen ab. Und das ist der Grund für meine Verlegenheit.

Rettet mich die Taufe? Und werden die anderen nicht gerettet? Ich weiß nicht, wie es ist, nicht getauft zu sein. Aber ich weiß, dass Gott alle Menschen retten will. Und dass jeder Mensch, der das Gute annimmt und mitvollzieht, das von Gott zu ihm kommt (und alles Gute kommt letztlich von Gott!), an seiner eigenen Rettung mitwirkt. Ob er Gott nun kennt oder nicht.

In der Begegnung mit Jesus Christus jedoch wird diese Rettung von Gott konkret. In ihm bekommt alle Rettung einen Namen und ein Gesicht. Er lässt sich so auf unser Leben ein, dass nichts von ihm unerreicht bleibt – nicht einmal die schon Verstorbenen, und auch nichts von dem, was in mir sterbend oder gestorben ist. Von ihm empfange und lerne ich, was vollkommene Liebe ist. Und zu ihm darf ich im Glauben und in der Taufe gehören.

Diese Zugehörigkeit rettet mich in der Tat – aus meiner Gottferne, aus der Verzweiflung am Leben und am Tod, aus dem, was ich alleine nicht wieder gut machen kann, und aus jener scheinbar ausweglosen Dynamik der Lieblosigkeit, die die Kirche „Erbsünde“ nennt.

In der Osternacht werden die Christen eingeladen, die Taufentscheidung zu erneuern, dem Bösen zu widersagen und sich zu Christus zu bekennen.

Bis dahin will ich die Fastenzeit nutzen, diese rettende Wende konkret zu üben und mich jener Liebe anzuschließen, die meine Verlegenheit überwinden, unser Leben wenden und jeden Menschen retten will.

Fra' Georg Lengerke

Feb 18, 202405:11
Sinn und Überwindung von Berührungsängsten Mk 1,40-45

Sinn und Überwindung von Berührungsängsten Mk 1,40-45

Berührungsängste können Leben retten. Zum Beispiel bei Offenplatten, wilden Tieren oder hochinfektiösen Krankheiten. Berührungsängste können auch Leben zerstören. Zum Beispiel bei Meidung von Menschen aus ethnischen, politischen oder religiösen Gründen.

In der Pandemie habe ich viel über die Unterscheidung meiner Berührungsängste gelernt. Es gibt Berührungsängste, die soll ich ernst nehmen und beachten, wenn die Berührung mich in Gefahr bringt. Andere Berührungsängste kann ich einfach vergessen, weil es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Wieder andere Berührungsängste soll ich ernstnehmen, weil wirklich Gefahr droht, sie dann jedoch überwinden und die Gefahr der Berührung in Kauf nehmen, wenn ein höheres Gut gefährdet ist.

Jesus berührt einen Aussätzigen. Das war gefährlich und außerdem verboten. Der Mann wird geheilt, und Jesus befiehlt ihm, sich den zuständigen Behörden als geheilt zu melden und ansonsten den Mund zu halten.

Ich könnte mir denken, dass die Erfahrungen der Pandemie das Verständnis dieser Szene bei vielen verändert hat. Viele Menschen haben seither eine höhere Sensibilität. Zum Beispiel für die Gefahr einer Ansteckung, für die Erfahrung der Not von Isolation und Quarantäne oder auch für die Frage der Angemessenheit oder Unangemessenheit von fremdem und eigenem Verhalten oder von obrigkeitlichen Maßnahmen.

Jesus scheint keine Berührungsängste zu haben. Er spürt, dass er den Mann berühren kann und soll und dass diese Berührung für den Mann bedeutet, gesund und wieder in die menschliche Gemeinschaft hineingenommen zu werden.

„Wenn du willst, kannst du machen, dass ich gesund werde“, sagt ihm der Aussätzige. „Ich will – werde rein“, sagt Jesus und berührt ihn. Jesus will, was der Mann will. – Aber der Mann will nicht, was Jesus will. Obwohl Jesus ihm denkbar streng einschärft, von der Sache zu schweigen, erzählt er sie überall herum.

Das führt zu einem Platztausch. Der Mann ist wieder in die Gesellschaft integriert. Jesus jedoch „konnte sich in keiner Stadt mehr zeigen“, weil er fürchten muss, vor der Zeit verhaftet zu werden. Der Geheilte ist drinnen. Der Heiland ist draußen. Damit deutet sich schon an, wie die irdische Lebenszeit Jesu ausgehen wird: Er stirbt draußen, schändlich hingerichtet, als Verworfener.

Jesus hat selbst Berührungsängste gekannt. Wir hören immer wieder, dass er Massenansammlungen oder bestimmte Orte meidet, weil der Entschluss, ihn zu töten, bereits gefasst ist. Im nächtlichen Gebet vor seiner Verhaftung schwitzt Jesus Blut und Wasser vor Angst, weil er weiß, dass von da an jede Berührung ein Schmerz sein wird – beginnend mit dem Kuss des Freundes, der ihn verrät, gefolgt von Schlägen und Demütigungen aller Art.

Schon darüber lohnt es sich für mich nachzudenken, dass Jesus die Berührungsangst zu uns hin überwindet, weil wir es ihm wert sind, sich in die Gefahr unserer Launenhaftigkeit, unserer Unwahrhaftigkeit und unserem tödlichen Umgang miteinander und mit der Schöpfung zu begeben. Gerade dort hält er liebend aus, was wir einander und damit immer auch ihm antun, weil er sich mit einem jeden(!) Menschen verbunden hat.

Die Frage ist immer wieder, ob ich das will. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass der Aussätzige Jesus so nah an sich heranlässt. Auch er hätte Grund gehabt, Berührungsängste zu haben. Nicht nur, weil auch ihm diese Nähe verboten war. Nicht nur, weil er um die Gefahr der Ansteckung des Anderen wusste. Sondern auch, weil es viel Mut und Vertrauen braucht, um jemanden in die Nähe der eigenen Krankheit und Versehrtheit, Entstellung und Unansehnlichkeit zu lassen.

Um solche Berührungsängste zu kennen, muss man nicht erst eine tödliche hochinfektiöse Krankheit gehabt haben. Es gibt Menschen, die haben erfahren, dass die Begegnung mit Gott ihr Leben und Lieben verwandelt hat. Die können uns helfen, dass uns die Berührungsangst vor Gott genommen wird.

Fra' Georg Lengerke

Feb 11, 202405:01
Wer kann schon allen alles werden? 1 Kor 9,16-19.22-23

Wer kann schon allen alles werden? 1 Kor 9,16-19.22-23

In diesen Tagen schreibe ich für einen Sammelband einen Artikel über „Selbstsorge“. Das ist die Kunst, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen nicht außer Acht zu lassen, während man für andere da ist.

Einer der möglichen Gründe für eine solche Außerachtlassung ist der Wunsch, es allen recht zu machen, nach Möglichkeit jedem zu Willen und für jeden ohne Unterschied auf die ihm gemäße Weise ganz da zu sein.

Theoretisch weiß jeder, dass das nicht möglich ist. Und wer es versucht, wird nie allen gerecht werden. Vor allem wird er ungerecht mit sich selbst. Denn er wird sich in einer Weise verleugnen und verbiegen, dass er am baldigen Ende nicht mehr weiß, wer er selbst ist, und auf der Strecke bleibt…

Bei Paulus findet sich eine Formulierung, die genau nach einer solchen Verbiegung und Verausgabung klingt: „Allen bin ich alles geworden.“ Wenn mir das heute jemand über seine Arbeit im Dienst am Nächsten sagen würde, dann wäre ich höchst alarmiert.

Nun macht Paulus von seiner ganzen Erscheinung nicht den Eindruck, als wäre er einer, der sich verbiegt, um es den Leuten um sich herum recht zu machen.

Im Gegenteil. Er schreibt: „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an seiner Verheißung teilzuhaben.“

„Alles … um des Evangeliums willen“. Paulus treibt nicht das Bedürfnis, gesehen, gemocht, anerkannt oder gar gelobt zu werden. Es geht nicht um das Gutsein Pauli, sondern um die Güte Gottes. Und die hat ihn in der Person Jesu und in seinem Wort in einer Weise erreicht, dass dies sein ganzes Leben verändert hat.

Von da an will er alles dafür tun, dass dieses Wort, diese Beziehung so viele Menschen wie möglich erreicht und von ihnen angenommen und beantwortet werden kann. So wie ein Medikament einen Kranken oder ein Liebesbrief einen geliebten Menschen in seiner Einsamkeit erreichen soll. Er kann nicht alle erreichen. Das kann nur Gott. Aber „möglichst viele“ und „auf jeden Fall einige“.

Und um des Evangeliums willen will Paulus – im Rahmen seiner Möglichkeiten – so nah wie möglich an den Menschen sein und an ihrem Leben, an ihrer Lage und an ihrem Schicksal, an Freud und Leid Anteil nehmen.

Und das, ohne es nötig zu haben: „Obwohl ich […] von niemandem abhängig bin, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen“ schreibt er. Den Schwachen sei er ein Schwacher geworden. Und macht damit offenbar genau das, was er kurz darauf aus Korinth nach Rom schreiben wird: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!“ (Röm 12,15)

Das bedeutet nicht, dass Paulus selbst außen vor bleibt. Er steht auf beiden Seiten: Auf der Seite dessen, der das Wort Gottes spricht, das er nun ausrichtet. Und auf Seiten derer, denen das Evangelium gilt, die es hören und annehmen sollen, mit denen er „an seiner Verheißung teilhaben“ will.

Wir können nicht vollkommen „allen alles werden“, ohne vor die Hunde zu gehen. Sondern wir können es nur im Rahmen unserer Möglichkeiten – und zusammen mit dem, der es allerdings ganz und gar vermochte. In Seiner Menschwerdung in Jesus von Nazareth ist der Sohn Gottes wirklich „allen alles geworden“ – bis in die letzten Winkel unseres Lebens mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Triumphen und Abgründen.

Und hier geschieht die Wende: Denn hier heißt „allen alles werden“ nämlich auch: „allen alles andere werden“. Denn indem Er allen alles wird, wird Jesus den Verlorenen auch ein Gefundener und den Ungeliebten ein Geliebter, den Traurigen ein Getrösteter und den Schwachen ein Starker – damit auch sie mit Ihm gefunden und geliebt, getrost und stark werden.

Und in dem Maße, in dem wir erlauben, dass Er für uns da ist und uns „alles in allem“ (1 Kor 15,28) wird, werden auch wir „möglichst vielen“ und „auf jeden Fall einigen“ Anteil an dem geben können, …

…woran Anteil bekommen zu haben unser Glück ist.

Fra' Georg Lengerke

Feb 04, 202405:17
Wechselnde Sorgen in Ehe und Zölibat 1 Kor 7,32-35

Wechselnde Sorgen in Ehe und Zölibat 1 Kor 7,32-35

Was haben die Menschen um mich herum davon, dass ich zölibatär lebe? Die einfachste Antwort wäre, dass ich mehr Zeit für sie habe. Das stimmt zwar, ist aber hoffentlich nicht die einzige Antwort. Auch ein Wirtschaftsunternehmen hat unter Umständen mehr von einem Angestellten, wenn er keine Rücksicht auf eine Familie nehmen muss.

Im Evangelium wird uns eine andere Antwort gegeben. Jesus sagt, es gebe Leute, die blieben „um des Himmelreiches willen“ unverheiratet (Mt 19,12). Dasselbe meint Paulus im Ersten Korintherbrief: „Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen.“ (1 Kor 7,32)

Und im scharfen Kontrast dazu beschreibt Paulus den verheirateten Menschen: Er „sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau […] sie will ihrem Mann gefallen.“ (1 Kor 7,33.34) Und daher, sagt Paulus, „ist er geteilt“.

Ist das wirklich so? Sind die Zölibatären ungeteilt für Gott da und die Verheirateten zwischen Gott und Welt zerrissen?

Sagen wir es so: Beides kommt vor. Es gibt Menschen, die wählen in Freiheit die ehelose Enthaltsamkeit, um sich „um die Sache des Herrn zu sorgen“. Das bedeutet nicht eine Alternative zum Dienst an der Welt. Im Gegenteil. Es bedeutet, auf diese Weise „ungeteilt“ mit Christus verbunden und verfügbar zu sein, um ganz mit Gott für die ihm anvertrauten Menschen und mit den Menschen für Gott und seine neue Welt da zu sein.

Und ja, es gibt verheiratete Menschen, die einen dauernden Konflikt erleben und erleiden zwischen geistlichem Leben und weltlichen Verpflichtungen, zwischen dem Anspruch des Evangeliums und den Ansprüchen, Plausibilitäten und Machbarkeiten in der Welt ihres täglichen Lebens.

Wovon Paulus allerdings nicht spricht, ist, dass es auf Seiten der Zölibatären und der Eheleute auch jeweils andersherum sein kann.

Es gibt Zölibatäre, die so sehr zerrissen sind von unfreien Beziehungen, Eitelkeiten oder einer allgemeinen Unordnung ihres Lebens, dass von der Liebe Gottes und dem neuen Leben, zu dem sie befähigt, nichts zu bemerken ist.

Und zugleich gibt es andererseits Ehepaare, die es verstehen, das Sakrament ihrer Liebe und ihre Sendung für ihre Kinder und ihre Gemeinde, für die Gesellschaft und für Menschen in Not so zu verwirklichen, dass man ahnt, was Jesus meinte, als er sagte, dass Reich Gottes sei schon mitten unter uns.

Vielleicht hilft es, sich in die Zeit des Apostels Paulus zu versetzen. Für die frühen Christen war die Gleichzeitigkeit der Weltlichkeit einer libertären städtischen Gesellschaft wie der in Korinth einerseits und dem neuartigen, konkreten Anspruch der Nachfolge Christi andererseits eine wirkliche Zerreißprobe, die sie als „Geteilt-Sein“ empfunden haben.

Das erklärt auch, warum Paulus und die frühe Kirche das ungeteilte Dasein für die Nachfolge und Sendung Jesu nach dem Modell der ersten Apostel als korrektives Gegenzeugnis wahrgenommen und propagiert haben. Und durch die Geschichte hindurch hat es leuchtende und wirksame Beispiele für dieses Zeugnis gegeben.

Andererseits gibt es auch Zeiten oder Situationen, in denen vor allem auch andersherum das Zeugnis der Eheleute für die Ehelosen notwendig wird.

Denn wo zum Beispiel die zölibatäre Lebensform und Lebenskultur verkommt, wo sie entweder als narzisstisch oder dekadent, als verbürgerlicht oder verlogen oder aus anderen Gründen als unglaubwürdig wahrgenommen wird, dort braucht es umso mehr das Zeugnis derer, die als Eheleute ungeteilt mit Gott füreinander da sind – und miteinander für Seine Liebe zu den Menschen.

Für meine Berufungsgeschichte waren sowohl verheiratete als auch zölibatär lebende Christen wegweisend. Und auch Verheiratete haben mich verstehen lassen, dass derselbe Gott, der sie zur Ehe berufen hat, andere Menschen auch zu anderen Lebensformen beruft und befähigt.

Zum Beispiel dazu, sich um Seiner Liebe willen ohne die Bindung an einen Menschen für viele Menschen zu verschenken.

Fra' Georg Lengerke

Jan 28, 202404:54
Als ich anfing umzukehren Mk 1,14-20

Als ich anfing umzukehren Mk 1,14-20

Eine Band heißt so. Ein Parfum ist nach ihr benannt. Und in einem Münchener Vorort trägt ein „Studio für Körperbewusstsein“ ihren Namen: Metanoia.

Ursprünglich bedeutet Metanoia aber „Umkehr“. Oder genauer „Umdenken“. Und mit dem Aufruf zu solchem Umdenken beginnt das öffentliche Auftreten Jesu im Evangelium: „Metanoiete - Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“

Umkehr bedeutet zuerst eine Richtungsänderung in der Absicht. Und dann geht es um eine neue Weise des Denkens: um neue Kriterien des Urteils, um ein neues Licht und eine neue Perspektive auf das, was mit begegnet, kurz: um eine neue Weise des Erkennens, Urteilens und Handelns.

So auch im Evangelium: Zuerst geht es um eine Richtungsänderung auf Jesus zu und mit ihm auf den Weg zu den Anderen. Und dann um eine neue Denk- und Lebensweise, die sich aus dieser Verbundenheit mit Jesus ergibt.

Mir geschieht das immer wieder, dass ich auf meinem Weg mit Gott und den Menschen umdenken muss. Von drei Momenten des Umdenkens will ich berichten:

1. Gott führt mich ins Weite, auch wenn’s eng wird.

Bindungen können uns einengen oder frei machen. Zu vielem wären wir nicht fähig, wenn andere uns nicht gelehrt hätten, worauf es ankommt, und wenn Menschen nicht verbindlich für uns oder wir für sie da gewesen wären.

Für viele Menschen jedoch bedeutet – sei es aus eigener Erfahrung oder durch Hörensagen – die Erfahrung der Bindung an die Kirche und den von ihr verkündigten Gott und sein Wort eine geradezu unerträgliche Beschneidung ihrer Freiheit und eine Verengung ihres Lebens.

Ich kenne solche Verengungen. Auch in der Kirche. Und sie sind mir schwer erträglich. Aber je länger ich mit Gott lebe, um so mehr wird mir der Weg im Glauben ein Weg in die Freiheit. Auch wenn sich meine äußeren Möglichkeiten mehr und mehr einzuschränken beginnen.

Das Hören auf Gott und die Seinen macht Menschen nicht klein, sondern groß, engt sie nicht ein, sondern weitet sie – mitunter mehr als ihnen lieb ist.

2. Gott ist schon da und hat mich zuerst geliebt.

Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wie ich vorher dachte. Jedenfalls hatte es viel mit Leistung zu tun – und vielleicht damit, dass ich in allem irgendwie „zuvorkommend“ sein wollte.

Irgendwann hat mich das dann überfordert. Ich hatte mich in einer Weise abgemüht, die Gott und den Menschen „genügen“ sollte, aber mir selbst nie zu genügen schien.

An dem Punkt wurde ich hellhörig für die vielen Male, die Jesus den Jüngern sagen muss, dass nicht sie ihn, sondern er sie gefunden und erwählt hat, dass vor dem Tun das Hören, vor dem Geben das Empfangen, vor dem Lieben das Geliebtwerden kommt.

Gott ist in Jesus schon bis hierher, an diesen Ort, in diesen Moment und in diese meine momentane Verfassung gekommen. Mehr braucht es nicht – als allein ja zu sagen und einverstanden zu sein, mich von Ihm und den Seinen lieben zu lassen. Und dem Maße ich das erlaube, werde ich auch ein Liebender sein.

3. Christus liebt auch die, mit denen ich nichts zu tun haben will.

Jesus lässt sich nicht für unsere Interessen, Parteinahmen und Sympathien vereinnahmen. Er ist nicht gekommen, um die Gerechten zu rufen (denn die gehören ja längst schon zu ihm), sondern die Sünder, nicht nur zu den Guten, sondern auch zu den Bösen, nicht nur für die Opfer um ihrer Heilung willen, sondern auch für die Täter um ihrer Umkehr willen.

Wo ich selbst zu den Sündern gehöre, ist das mein Glück. Und wo ich erkenne, dass Jesus die liebt und bei sich haben will, mit denen ich noch nichts zu tun haben will, ist das mein heilsamer Schmerz.

Die Einheit der Kirche und der Menschheit fängt nicht da an, wo wir alle auf Linie sind. Sondern dort, wo wir darum bitten und zu lernen beginnen, die zu verstehen und zu lieben, mit denen wir nicht einverstanden sind.

„Metanoiete – Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Das beschreibt einen lebenslangen Weg. Und manchmal kommt er mir vor, als hätte ich ihn gerade erst begonnen.

Fra' Georg Lengerke

Jan 21, 202405:06
Jetzt mal abgesehen von uns Joh 1,35-42

Jetzt mal abgesehen von uns Joh 1,35-42

Manchmal begegnen uns Menschen, die so von Äußerlichkeiten in Anspruch genommen sind, dass ein Blick nach innen für sie eine Lebenswende bedeuten würde.

Andere dagegen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass ihr Aha-Erlebnis darin bestünde, einmal von sich abzusehen, um die Welt um sich wahrzunehmen. Und damit auch das, was in ihr für ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten existentiell relevant und daher im Augenblick wichtiger ist als ihr eigenes Befinden.

Gegen ein solches Absehen von sich selbst kann sich Widerstand regen. Manche haben sich in ihrer Innerlichkeit eingerichtet und fürchten, von dem, was ihnen begegnet, infrage gestellt zu werden.

Andere fürchten, durch Absehen von sich selbst als Verharmloser ihrer Schuld und Vertuscher ihrer Schwächen zu gelten.

Und dann gibt es auch noch welche, die so von sich überzeugt sind, dass sie Angst haben, andere oder anderes könnte bedeutender sein als sie selbst.

Wenn ich ehrlich bin, ist mir auch selbst all das nicht fremd: die einseitige Inanspruchnahme von außen oder von innen und der Widerstand dagegen, mal von mir abzusehen.

Und schließlich kenne ich das auch von der Kirche und ihren Gemeinschaften: dass sie (entweder an sich verzweifelnd oder von sich selbst betört) so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie glauben, es sich keinesfalls leisten zu können, von sich abzusehen.

In den biblischen Lesungen an diesem Sonntag begegnen uns zwei Menschen, die so von sich absehen, dass das, was dadurch für andere hörbar und sichtbar wird, zur Lebenswende wird.

Der junge Samuel hört eine nächtliche Stimme seinen Namen rufen. Er meint, es sei die des alten Priesters Eli, und tritt an dessen Lager. Zweimal verneint dieser, ihn gerufen zu haben. Beim dritten Mal erkennt Eli, dass Gott selbst den Knaben gerufen hat: „Wenn er dich ruft, dann antworte: Rede, Herr; denn dein Diener hört.“ (1 Sam 3,9) Die Stimme ruft wieder. Samuel antwortet, wie Eli sagt. Und Gott spricht…

Am Anfang des Johannesevangeliums weist der Täufer Johannes gleich zu Anfang darauf hin: „Ich bin nicht der Christus!“ (Joh 1,20) Was muss das für eine gewaltige Versuchung gewesen sein, die Menschen im Zweifel darüber zu lassen, dass er erwartete Retter sei.

In der Szene heute weist er zwei seiner eigenen Schüler auf Jesus hin, in dem Johannes den Christus, den göttlichen Gesalbten und Retter der Welt erkannt hat: „Seht, das Lamm Gottes!“, sagt er in Anspielung auf ein Prophetenwort. Die beiden hören es, verlassen den Täufer und gehen hinter Jesus her.

Es ist entscheidend wichtig für das Christsein im Allgemeinen und für die Dienste in der Kirche im Besonderen, dass wir immer wieder von uns absehen. Ohne Angst davor zu haben, infrage gestellt zu werden. Ohne sich damit schon für einen Verharmloser oder Vertuscher zu halten. Und ohne die Angst, dadurch an Bedeutung zu verlieren.

Samuel wird zum Propheten, weil Eli die Stimme Gottes nicht für seine ausgibt, sondern von sich absieht und den Jungen lehrt, Gottes Stimme zu vernehmen und zu verstehen. Andreas und sein Gefährte lassen sich von Jesus infrage stellen und einladen, weil Johannes sie auf ihn verweist und sie weggehen lässt.

Eli, der Priester von Schilo, und Johannes, der Täufer am Jordan, erinnern uns daran, worauf es beim Christsein, bei der geistlichen Freundschaft und Begleitung und beim Zeugnis der Christen ankommt:

Es kommt darauf an, dass einer dem anderen von dem erzählt, was er erlebt und als wahr erkannt und als Lebensprägung angenommen hat. Und dass er dann dem anderen hilft, selbst zu hören und zu verstehen (wie Samuel) oder zu sehen und zu erkennen (wie Andreas und der andere Jünger), was es heißt, auf Gott zu hören und mit Christus zu leben und zu lieben.

Wo es Wege und Orte, Gemeinschaften und Dienste, Freundschaften und Beziehungen gibt, in denen Menschen einander so von sich erzählen und so von sich absehen – um Gottes Willen – da fängt etwas Neues an.

Fra' Georg Lengerke

Jan 14, 202404:38
Einander anvertraut (Neujahr, Lk 2,16-21)

Einander anvertraut (Neujahr, Lk 2,16-21)

Nach Weihnachten habe ich meine alten Eltern besucht. Sie versorgen sich selbst. Geistig sind beide hellwach und interessiert. Körperlich jedoch sind sie unterschiedlich gut zurecht. Das gleicht die Mutter in der Sorge um den Vater so gut es geht aus. Sie sind einander anvertraut.

Als wir abends beieinandersitzen, muss ich daran denken, dass auch ich im Anfang diesen beiden Menschen anvertraut war. Eltern können Kinder ja nicht „machen“. Sie können nur die Bedingungen schaffen, dass sie werden. Und in ihrem Fall waren diese Bedingungen meines Werdens Ausdruck einer großen Liebe. Sie haben uns Geschwister empfangen und angenommen, uns werden und losgehen lassen. Das war nicht schmerzlos und nicht immer einfach. Aber einmal mehr empfinde ich an diesem Abend eine große Dankbarkeit. Wir sind einander anvertraut.

Heute, am ersten Tag des Kalenderjahres, dem sogenannten Oktavtag des Weihnachtsfestes, feiert die Kirche das Hochfest der Gottesmutter Maria. Mir kommt es vor, als würde die Kirche an diesem Tag rückblickend noch einmal fragen: Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass Gott der Sohn als Mensch in die Geschichte der Menschen eintritt?

Das Evangelium erzählt, wie die Hirten Ihn fanden. Sie mussten ja gewissermaßen erst dreimal hinschauen „und fanden Maria und Josef und das Kind, das in einer Krippe lag“. „Als die Zeit erfüllt war“, schreibt Paulus der Gemeinde in Galatien, „sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau.“

Gott macht sich angewiesen und vertraut sich uns an. Oder genauer gesagt: Er vertraut sich einer von uns an. Nicht durch die liebende Übereinkunft von Mann und Frau, sondern durch den Entschluss Gottes, zu dem eine Frau mit ihrer ganzen Existenz ja sagt.

Dieses Anvertrauen Gottes geht weiter. Er vertraut den Menschen Seine Sichtbarkeit an, indem Er sie als Sein Bild schuf. Er vertraut den Liebenden Seine Gabe zu lieben an und den Glaubenden Sein Wort, damit es ihr Leben forme und sie es weitersagen und Ihn bezeugen, damit die Menschen erkennen: Gott ist mit uns.

Und Er verbindet sich mit denen, die uns anvertraut sind: mit den Kindern und den Alten, mit den Einsamen und den Traurigen, den Nackten, Hungrigen und denen, die kein Zuhause haben. Von ihnen sagt Er: Was ihr ihnen tut, das tut ihr mir.

Und schließlich sagt uns Gott, dass wir einander Ihm anvertrauen sollen. Das geschieht im Segen. Wer segnet, sagt: Ich vertraue dich der Liebe, der Macht und der Treue Gottes an, die über meine hinausgeht. Segen hat mit Freigabe und Sendung zu tun. Mit dem Verzicht, den anderen durch Hilfe abhängig zu machen und zu beherrschen.

Wie mag das in Euren Familien und Freundschaften sein? Gibt es so etwas, wie einen Brauch oder eine Kultur des Segnens? Vielleicht können wir damit ja beginnen in diesem Neuen Jahr, dass wir einander einfach segnen.

Heute muss ich besonders an den Muttersegen denken. Als ich neulich von den Eltern aufbreche, zeichnet meine Mutter beim Abschied wie immer ein Kreuz auf meine Stirn: „Gott schütze dich, mein Junge!“ Der „Muttersegen“ hat eine ganz eigene Würde. Einfach deshalb, weil Gott uns zuallererst unseren Müttern anvertraut hat.

Vor Jahren sah ich nach einer Trauung, wie die Großmutter der Braut (80) von der Urgroßmutter der Braut (104) im Rollstuhl Abschied nahm. Sie küssten einander und dann machte die Ältere ein Kreuz auf die Stirn der Jüngeren und sagte: „Gott segne dich, mein Kind!“

Wir bleiben für immer jemandes Kind. Deshalb können wir auch immer um den Segen der Eltern bitten, übrigens auch wenn sie längst gestorben und bei Gott sind.

Wenn uns aber schon am Muttersegen unserer leiblichen Mütter gelegen ist, dann sollte uns am Muttersegen Marias erst recht gelegen sein. Denn sie segnet uns mit der Gegenwart des Sohnes Gottes, der ein Mensch wird.

Gott hat uns einander anvertraut. Er hat sich selbst uns anvertraut. Und Er wirbt darum, dass wir uns Ihm anvertrauen und Seinem Segen in diesem neuen Jahr.

Fra' Georg Lengerke

Jan 01, 202405:04
Wonach wem an Weihnachten ist (Predigt in St. Peter, München in der Hl. Nacht 2023, 10:08 Min.)
Dec 25, 202310:08
Erschreckte Überlegung - Vierter Advent/Heiliger Abend Lk 1,26-38

Erschreckte Überlegung - Vierter Advent/Heiliger Abend Lk 1,26-38

„Irgendwie kommt Weihnachten jedes Jahr überraschend“, sagte vor Jahren eine Freundin von mir und lächelte. Sie ist Mutter einer kinderreichen Familie und wollte sagen: Die Vorbereitungszeit ist immer zu kurz. Wir nehmen uns immer zu viel vor. Es wäre immer noch was zu tun. Und scheinbar plötzlich ist keine Zeit mehr, weil Weihnachten ist.

Dieses Jahr mag es einem erst recht so vorkommen. Der Advent ist so kurz wie nie. Die Vierte Adventswoche dauert nur einen Tag. Am Abend des Vierten Advents beginnt das Weihnachtsfest – „irgendwie überraschend“.

Von einem Erschrecken erzählt das heutige Evangelium: Ein Engel verkündet Maria die Geburt Jesu. Aber Maria erschrickt nicht etwa darüber, dass ein Engel im Zimmer steht. Sie hat ja nicht von ihm geträumt wie Josef oder eine Engel-Erscheinung gehabt wie Zacharias, der Vater Johannes des Täufers.

Ein sichtbarer Engel im Zimmer – das wäre mal ein Grund zum Erschrecken. Aber Maria erschrickt nicht über seine Sichtbarkeit. Es klingt fast so, als wäre die ihr ganz selbstverständlich. Sie erschrickt über seine Anrede.

„Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“, sagt der Engel. Und Maria, erzählt der Evangelist Lukas, „erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe.“ Das möchte ich verstehen und mitempfinden: „Sie erschrak … und überlegte.“

Gut, wenn Josef das gesagt hätte, dann wäre das charmant gewesen und zärtlich und vielleicht verliebt. Aber dieses Wort tritt aus der „unsichtbaren Welt“ (Credo), aus der Unverfügbarkeit und Unerreichbarkeit Gottes in Gestalt des Engels bei ihr ein: „Du Begnadete!“ Und sie erschrickt.

Ich stelle mir vor, ich nähme eine solche Zusage von Ich-weiß-nicht-wo wahr. Ich würde fragen: Was heißt hier begnadet? Was weißt Du, was ich nicht weiß?

Und ich würde mich erinnern an das, womit ich „begnadet“ wurde: An das, was ich geschenkt bekam, ohne es verdient zu haben. An das, was ich bin, ohne mich entschieden oder es gemacht zu haben. Und schließlich an das, was zu entscheiden und zu tun, zu lernen und zu bauen mir ermöglicht und erlaubt wurde. „Du Begnadeter!“ Und dann würde ich an das denken, was schon da ist, was ich aber noch nicht erkannt und angenommen habe. An den Schatz im Acker, der noch nicht gehoben ist und darauf wartet, gefunden und gehoben zu werden.

„Der Herr ist mit dir.“ Das ist er. Der ungehobene Schatz. Alles, woran ich mich gerade erinnerte, war Gabe. Jetzt aber heißt es vom Geber, dass er bei mir, in mir, mit mir ist. Auf meiner Seite. Nicht gegen die Anderen, mit denen ich mich auseinandersetze. (Irritierenderweise ist er ja auch „mit ihnen“.) Sondern in mir mit mir. Auch da, wo ich gegen mich selber bin, oder gegen meine Seele, gegen das, was ich von Gott her bin. Gott kommt auf meine Seite in mir. Und er überwindet mit mir, was ich nicht bin – auch wenn ich es krampfhaft zu sein versucht habe.

„Der Herr ist mit dir.“ Und zwar nicht nur in einem geistig-intellektuellen beziehungsweise geistlich-spirituellen Sinn. Sondern leiblich und anfassbar, sichtbar und hörbar, verständlich und zugleich unbegreiflich. Denn als Kind ist er kleiner und als Gott unvergleichlich, unendlich größer als ich.

Weihnachten heißt: Was in Maria geschieht, geschieht für uns. Gott wird ein Mensch. Und was für uns geschieht, soll in uns geschehen. Der in Maria Mensch gewordene Gott tritt in unser Leben ein, um „Immanuel“ – „Gott mit uns“ zu sein – damit auch wir selbst wieder bei uns, mit uns und in uns sind – und mit Gott für die Anderen.

„Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir.“ Der Advent ist dieses Jahr kurz. Heute Abend schon beginnt das Weihnachtsfest. Wie gut, dass wir noch ein Leben lang Zeit haben, um zu überlegen, „was dieser Gruß zu bedeuten habe.“

Fra' Georg Lengerke

Dec 24, 202304:56
Die verharmloste Freude 1 Thess 5,16-24 (Gaudete)

Die verharmloste Freude 1 Thess 5,16-24 (Gaudete)

Die Aufnahme ist der Mitschnitt der ensprechenden Predigt am Vorabend (9:27 )

Im Advent und in der Fastenzeit stechen zwei Sonntage heraus. Sie erinnern daran, dass der Grund für diese spezielle, eher nachdenkliche und ernste Zeit der Vorbereitung und der Buße vor allem ein Grund zur Freude ist.

Entsprechend lauten die Eröffnungsverse der Heiligen Messe. „Gaudete“, so heißt und beginnt der Dritte Adventssonntag, „Gaudete in Domino semper…“ – „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Denn der Herr ist nahe“ (Phil 4,4.5)

Nun ist das mit der Freude so eine Sache. Sie kann ja nicht einfach verordnet werden. Und für viele Menschen sind die Gründe für Freude angesichts ihrer Sorgen und Zukunftsängste eher rar geworden.

Das gilt auch in der Kirche. Solange die Kirche nicht bestimmte Kriterien erfüllt, sind viele in ihr tendenziell schlecht gelaunt und die Freude wird verschoben auf später, wenn alles anders und besser ist – manchmal ein Leben lang.

Mich erinnert der Sonntag Gaudete an drei Gründe zur Freude:

Erstens an die Mitfreude. Ich freue mit den Menschen um mich herum über alles mögliche Gute. Es gibt ja keine gottlose Freude, wenn es echte Freude ist. Damit meine ich eine Freude, die sich auf Gutes bezieht, nicht auf Kosten anderer geht und so ist, dass sie das Gute im Menschen zum Vorschein bringt. Echte Freude kommt von Gott und führt zu Gott. Und dann kann sie zu einer Freude werden, die nicht nur Gütern gilt, sondern der Güte, nicht nur Gaben, sondern auch dem Geber.

Zweitens freue ich mich an Gott und seinem Kommen und seinem Versprechen, uns nahe zu sein und uns Anteil an seinem Leben zu geben. „Der Herr ist nahe!“, ruft Paulus den Philippern als Grund zur Freude zu.

Manchmal wird die Freude an Gott mit der Freude an sich selbst verwechselt. Es ist ja nichts falsch daran, sich über sich selbst zu freuen. Nur wäre es gut, wir würden darüber nicht stolz oder undankbar.

Es gibt zum Beispiel eine bestimmte „Freude am Glauben“, die keine Freude an dem Geglaubten ist, sondern Freude am Frommsein. Das ist so ähnlich, wie wenn einer mehr Freude am Lieben hat, als am geliebten Menschen. Dann braucht einer den anderen, um sich für einen guten Liebhaber zu halten.

Ich freue mich an mir, weil ich mir gegeben bin. Und daher freue ich mich über den Geber noch bisschen mehr als über mich, weil er so viel mehr gibt als bloß mich.

Die Freude an Gott und seinen Gaben ist allerdings vielen verdächtig: Wer sich jetzt freut, heißt es, hat den Ernst der Lage nicht erkannt. Wer sich freut, lebt in einer Blase. Wer sich freut, verharmlost das Leid und das Böse.

Die Freude an Gott müsste also so sein, dass sie auch angesichts der Not der Welt noch irgendwie Bestand hat – ohne dieses zu verharmlosen.

Wenn der gesalbte und gesendete Knecht Gottes kommt, sagt der Prophet Jesaja in der Lesung, dann kommt er, „um den Armen frohe Botschaft zu bringen, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung auszurufen und den Gefesselten Befreiung“ (Jes 61,1). Die Kirche ist der Ort, an dem das Kaputte in der Welt zu dem kommt, der die Liebe ist und es heil machen wird. Wer nichts Kaputtes in der Kirche haben will, der hat ein Problem.

Nur dürfen wir halt das Kaputte nicht heil und das Gefangene nicht frei nennen, das Kranke nicht gesund, die Heuchelei nicht Heiligkeit und die Lüge nicht Wahrheit nennen, wenn es wirklich zu dieser Begegnung mit Gott in der Kirche kommen soll.

Weil ich wie alle Menschen diese Begegnung ersehne und nötig habe, freue ich mich an Gott und auf ihn.

Und drittens muss ich an noch eine Mitfreude denken. Nämlich an die Mitfreude mit Gott. Das vergessen wir Christen nicht selten, dass Gott sich an der Welt freut und sich nach dem Menschen sehnt, und dass es Gottes „Freude [ist], bei den Menschen zu sein“ (Spr 8,31). Nicht nur um uns zu ertragen, zu versöhnen und zu erlösen. Sondern einfach so, weil wir ursprünglich seine Freude sind wie er unsere Freude ist.

Fra' Georg Lengerke

Dec 17, 202309:17
Geistliche Übung im Advent 2 Petr 3,8-14

Geistliche Übung im Advent 2 Petr 3,8-14

Geistliche Übung im Advent 2 Petr 3,8-14

Am Freitag sind meine jährlichen Exerzitien zu Ende gegangen. Acht Tage im Schweigen, täglich eine Heilige Messe, Meditationszeiten, ein Begleitungsgespräch.

Der hl. Ignatius von Loyola schreibt, diese Tage „geistlicher Übungen“ seien dazu da, „sein Leben zu ordnen“. Dabei stellen sich Fragen wie: Worauf kommt es in meinem Leben an? Was begegnet mir und was folgt daraus für mich? Wofür bin ich dankbar? Wie steht es um mein Gebetsleben, um die Beziehung zu meinen Nächsten und zu Gott, wie um Arbeit und Erholung, Ernährung und Bewegung? Was setze ich fort? Was beende ich? Was fange ich neu an? Was werde ich künftig anders machen?

Dieses Jahr lagen die Exerzitien genau in der ersten Adventswoche. Der Advent ist ja – wie die österliche Bußzeit auch – als eine Art Exerzitienzeit gedacht. Eine Zeit, in der wir unsere Haltungen, unser Verhalten und unsere Verhältnisse überprüfen oder neu einüben – in Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Kind in der Krippe.

„Das Leben zu ordnen“ ist dann eine besondere Herausforderung, wenn die Welt in Unordnung ist – sei es in mir oder um mich – und ich daran gerade nichts ändern kann.

Im Ersten Petrusbrief wird eine solche Unordnung beschrieben, und zwar in einem geradezu apokalyptischen Ausmaß: „Dann werden die Himmel mit Geprassel vergehen, die Elemente sich in Feuer auflösen und die Erde und die Werke auf ihr wird man nicht mehr finden.“ (1 Petr 3,10)

Was heißt das jetzt, mein Leben zu ordnen in der Unordnung der Welt? Vielleicht können drei Gedanken in der zweiten Adventwoche hilfreich sein:

Erstens geht es in Exerzitien und in der christlichen Spiritualität überhaupt zuerst um das, was ich mit Gottes Hilfe ändern kann, und um die Voraussetzungen, die ich schaffen kann, damit Gott mich und die Welt um mich herum verwandeln kann. Es geht nicht zuerst um die Unordnung der Anderen oder die der ganzen Welt. Die Verwandlung der Welt beginnt jetzt und hier, in diesem Augenblick und da, wo ich eben gerade bin.

Und zweitens soll es uns um die Begegnung mit Gott in allen Dingen gehen. Mit jenem ganz anderen, ewigen und unbegreiflichen Ursprung und Ziel und Erhalter von Allem, der die Liebe ist. Dieser Gott offenbart sich als Mensch und kommt in die Welt. Und das auf dreifache Weise, sagen die frühen Theologen der Kirche:

Er kommt „im Fleisch“, indem Er in der Geschichte Mensch wird und unser Leben lebt und liebt.

Er kommt „in Herrlichkeit“, wenn die Welt und das Leben eines jeden Menschen ans Ziel kommt und wir Ihn „schauen von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12).

Und dieser selbe Menschgewordene (das Kind und der Herr der Geschichte) kommt „im Geist“, wo Menschen sich hier und heute für Sein Wort und Wirken öffnen und als Liebende und Geliebte füreinander da sind.

Die Zeichen des Zerfalls, von denen die Heilige Schrift spricht, sind mehr als nur ökologische Phänomene, Veränderungen des Klimas oder die Folgen der grauenhaften Vergewaltigung der Schöpfung durch den Menschen.

Sie sind Zeichen der Verwandlung in und um uns. Wir können sie nicht verändern. Sie verändern uns. Wir sollen uns ihnen stellen. In ihnen beginnt die Begegnung mit Jesus Christus „in Herrlichkeit“.

Und das Dritte schließlich ist eine Veränderung der Perspektive, an die ich in der letzten Woche häufig gedacht habe. Oft habe ich nach Exerzitien Klarheit darüber, was ich tun soll. Dieses Mal habe ich vor allem Klarheit darüber, dass ich Gott in allen Dingen auf mich zukommen lassen soll.

Das mag auch mit meiner jetzigen Lebensphase zu tun haben. Aber eigentlich soll es uns ja in jeder Lebensphase und in all unseren Plänen und Unternehmungen immer auch darum gehen:

dass wir in allem mit der „Ankunft Gottes“ rechnen („im Fleisch“, „im Geist“ und „in Herrlichkeit“), mit dem Anbruch der Verwandlung hin zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“, und dass wir von Ihm bereit und „in Frieden … angetroffen werden“, wann immer Er kommt.

Fra' Georg Lengerke

Dec 10, 202305:01
Ana malaki - Ich bin eine Königin (Christkönig, Mt 25,31-46)

Ana malaki - Ich bin eine Königin (Christkönig, Mt 25,31-46)

Die erste Oktoberwoche verbrachten wir eine Ferienwoche in den Bergen über Beirut mit psychisch kranken Frauen. Da wussten wir noch nicht, dass es einstweilen die letzte sein wird.

Viele der Frauen sprechen Französisch oder Englisch oder beides, einige haben studiert. Eine hat ein Buch geschrieben. Bei entsprechender medizinischer und freundschaftlicher Unterstützung würde eine Reihe von ihnen auch alleine oder in Wohngruppen leben können. Hier in Libanon jedoch sind sie alle in einer großen Einrichtung, deren Träger große Mühe haben, einen medizinischen und humanitären Mindeststandard aufrechtzuerhalten. Ihre Situation ist prekär. Sie schlafen in Neunerzimmern, es gibt praktisch keine Privatsphäre. Eine Frau erzählt, die wohlhabende Familie ihrer Schwester habe sie einweisen lassen, weil sie dort nicht tragbar sei. „Aber sie lieben ihre Hunde“, erzählt sie, „für die würden sie alles tun.“ Und nach einer Pause: „Ich wünschte, ich wäre ein Hund. Dann würden sie mich auch lieben und ich hätte ein Zuhause.“

In der Kapelle des dortigen Hauses der Malteser steht seit diesem Sommer eine Holzfigur des Bonner Künstlers und Diakons Ralf Knoblauch. Knoblauchs Skulpturen sind sehr einfache Figuren. Als hätte ein Kind sie gemacht. Vielen sieht man die kantige Form des Holzscheits noch an, aus dem sie geschnitzt wurden. Unsere hat eine Jeans und ein weißes T-Shirt an – und eine goldene Krone auf dem Kopf. Es ist ein König in Alltagskleidung. Ralf Knoblauch hat mittlerweile hunderte von Figuren geschaffen – Königinnen und Könige. Jeden Morgen eine. Sie stehen an Orten, an denen die Würde des Menschen verletzt oder vergessen oder ausdrücklich in den Fokus ihrer Mitmenschen genommen wird.

In der Heiligen Messe am letzten Morgen der Ferienwoche lesen wir die Lesungen und beten die Gebete vom Christkönigsfest, das wir heute feiern. Es handelt von jenem König, der in die Welt kommt und von der Welt nicht erkannt, sondern verkannt, nicht geehrt, sondern verworfen wird. Von jenem König, der sein Königtum nicht von Menschen hat, sondern ganz „von Gottes Gnaden“ ist. Von jenem König, der seine Königswürde nicht für sich behält, sondern allen mitteilt und in allen zum Vorschein bringt – auch in den Verkannten, Verworfenen und Weggesperrten. Dort wohnt er, als König eines Volkes von Königen und Königinnen. Dort will er sich finden lassen, wenn er sagt, was wir einem der Geringsten seiner Schwestern und Brüdern getan haben, das haben wir ihm getan.

Nach der Predigt nimmt jede Frau, die das will, den hölzernen König in die Hand und sagt: „Ana malaki! – Ich bin eine Königin!“ Manchen kommt das Wort nur schwer über die Lippen. Den einen ist das Wort zu groß. Den anderen scheint es zu einfach dahergesagt. Eine sagt: „Christus ist König…“ und nach einer Pause: „…und ich bin eine Königin!“ Eine andere schweigt eine Weile und sagt leise: „Mit Bescheidenheit und Stolz: Ich bin eine Königin!“ Eine andere strahlt und wartet darauf, aufstehen und sagen zu dürfen: „Wegen der Liebe Gottes zu mir bin ich eine Königin!“

Dann kommt die Frau an die Reihe, die sich vorgestellt hat, wie es wäre, ein Hund zu sein, um bei ihrer Schwester wohnen zu dürfen und geliebt zu werden. „Ich selbst kann es noch nicht glauben, aber Gott sagt mir: Ana malaki – Ich bin eine Königin."

Am folgenden Tag, dem 7. Oktober, beginnt von neuem ein Krieg im Heiligen Land. Hunderte Kinder, Frauen und Männer sterben schon in den ersten Stunden. Jeder Tod ist ein Königsmord und eine Selbstentwürdigung der Mörder.

Nun werden wir einander eine Weile nicht sehen können. Aber uns verbindet, dass wir miteinander Anteil haben an der Würde, die von Gott kommt. Und wir wollen Tag für Tag so leben, dass wir Gott und einander glauben, dass wir alle königliche Menschen sind.

Fra' Georg Lengerke

Nov 26, 202304:21
Hab dich. Nicht so (Predigt 25 Jahre Libanonprojekt, 11 Min.) Mt 25,14-30

Hab dich. Nicht so (Predigt 25 Jahre Libanonprojekt, 11 Min.) Mt 25,14-30

An diesem Wochenende feiern wir in München ein Dankfest. Seit 25 Jahren gibt es das Libanonprojekt, in dem deutsche und libanesische Volontäre mit behinderten und psychisch kranken Menschen in den libanesischen Bergen Ferien machen.

Da scheint das Gleichnis von den Talenten, die im Geben gemehrt und im Verbergen verloren werden, gerade richtig zu kommen. Wir danken für Menschen und ihre Talente, dafür, dass sie sie gegeben und gemehrt haben. Dafür, dass andere so ermutigt wurden, auch sich und das Ihre einzubringen. Dafür, dass wir miteinander reich geworden sind an Freundschaft und Liebe, an Glaube und Hoffnung…

Aber irgendwas fehlt. Dafür hätten wir das Evangelium nicht gebraucht. Und die Sache mit der Mehrung der Talente hat etwas Fragwürdiges. Oft wird gesagt: „Man bekommt so viel mehr zurück, als man gibt!“ Kann sein. Aber geht es darum? Sind wir dafür gekommen? Das ist ja einer der Vorwürfe gegen Projekte wie unseres: es sei Voluntärstourismus und eine Instrumentalisierung der Armen, um etwas wiederzubekommen, eine narzisstische Selbstbefriedigung unter dem Deckmantel des Altruismus.

Aber das Resümee im Evangelium ist ja gar nicht: Wer gibt, dem wird gegeben. Das wäre zwar langweilig aber wenigstens gerecht. Das Resümee Jesu jedoch klingt empörend ungerecht:

Wer hat, dem wird gegeben werden und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.

Berthold Brecht hat dieses Gleichnis das „Kapitalistenevangelium“ genannt: Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Ist das gemeint?

Während der Pandemie war ich in einer seelsorglichen Einsatzgruppe, deren Mitglieder Covid-19-Patienten besuchten, um ihnen die Krankenkommunion, die Krankensalbung oder die Beichte zu spenden, oder für ein Gespräch da zu sein.

Eine freundliche alte Dame mit Humor wollte mir am Ende des Besuchs eine alte Geldbörse mit einer Spende mitgeben. Ich meinte, die dürfte ich leider nicht annehmen wegen der Infektionslage. Darauf Sie energisch: „Pater Georg, jetzt haben Sie sich mal nicht so! Wenn Sie sich vor dem Besuch so gehabt hätten, wären Sie gar nicht erst zu mir gekommen.“

Dieses Wort beschäftigt mich seitdem. „Sich nicht so haben“ bedeutet ja, nicht allzu empfindlich zu sein. Anders gesagt: Sei keine Heulsuse, und stell Dich nicht so an.

Hab Dich nicht so! Aber ich soll mich doch haben! Ich bin mir ja auch gegeben: mein Leben, mein Leib, meine natürlichen und erlernten Fähigkeiten – meine Talente.

Hab Dich nicht so! Ich denke über diesen Satz seitdem viel nach. Denn er sagt mir ja: Ich soll mich haben. – Aber nicht so.

Der vollständige Text der Predigt erscheint in Kürze unter https://www.betdenkzettel.de/

Nov 19, 202310:54
Verzögerung als Chance Mt 25,1-13

Verzögerung als Chance Mt 25,1-13

Verzögerungen können eine nervliche Herausforderung sein. Beim Bahnfahren, bei Geschäften oder Verabredungen. Vor allem dann, wenn folgende, wichtigere Anliegen oder Zusagen dadurch gefährdet werden.

Manchmal sind Verzögerungen aber auch Chance oder Erleichterung. Ich erwische gerade noch einen verspäteten Anschlusszug. Das Essen ist noch nicht fertig und der Gast verspätet sich. Ein Spielende verzögert sich um die Nachspielzeit, in der das entscheidende Tor fällt.

Nun sind die genannten Beispiele alle nicht letztentscheidend. Aber was ist, wenn es einmal wirklich um die letzten Dinge, um die entscheidenden Fragen unseres Lebens geht?

Von einer Verzögerung erzählt das Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen, die bei einer Hochzeit den Bräutigam erwarten. Als der verspätet eintrifft, gibt es für die törichten ein böses Erwachen. Sie haben leere Lampen mitgenommen und kein Öl, während die klugen auch Öl mit sich trugen.

Es geht hier nicht um irgendeine Begegnung. Es geht um die endzeitliche Begegnung mit Jesus Christus, um den Moment, an dem es ans Sterben und also um alles geht.

Das Öl in der Lampe, das die einen haben und die anderen nicht, ist offenbar entscheidend für die Begegnung und Gemeinschaft mit Gott. Es bedeutet die Freude an Gott, sagt Augustinus.

Ich würde allgemeiner sagen, es ist unsere Erreichbarkeit für Gott. Es ist das, was bleibt, wenn wir alles lassen müssen. Es gehört so uns, dass es unvertretbar ist und nicht eben nochmal mitgeteilt oder organisiert werden kann.

Das Öl bedeutet die Entflammbarkeit für Gott und seine Sache in der Welt. Für das Licht, das von Gott kommt und in dem ich sehend und sichtbar werde.

Angenommen, es ginge mit mir zu Ende und meine Begegnung mit Christus stünde unmittelbar bevor. Angenommen, es ginge heute um alles. – Bin ich erreichbar für ihn? Oder will ich es wenigstens sein? Habe ich das Öl in meiner Lebenslampe für den letzten Schritt in das, was jetzt noch dunkel scheint?

Auch wenn es um die letzten Dinge und um das Ganze unseres Lebens geht, kann eine Verzögerung ein Leid sein oder ein Segen.

Ein Leid ist sie für die vielen, die Gott darum bitten, er möge sie doch aus dem Streit oder dem unerträglich scheinenden Schmerz ihres Lebens zu sich nehmen. Aus diesem Leid der Welt bittet die Kirche in der Liturgie des Advents flehentlich darum, Gott möge doch kommen und nicht länger zögern und die Welt vollends erlösen und zu sich nach Hause an ihr Ziel bringen: „O komm und errette uns,… säume nicht länger!“ (O Antiphon vom 19. Dezember)

Ein Segen jedoch bedeutet die Verzögerung dieses letzten Schrittes für die Menschen, deren Leben sich dem Ende neigt und die sich fragen, worum sie sich eigentlich jahrelang gesorgt und wovor sie eigentlich Angst hatten, wenn all das nun gegenstandslos ist. Für die, die mir sagen, sie würden gern anders gelebt haben und würden auch künftig anders leben, wenn ihr Ende sich noch einmal verzögerte.

Ein Segen ist die Verzögerung auch für mich. Als ich krank war, kam der Tod näher in Sichtweite als sonst. Seither lebe ich mit ihm, und immer wieder kommt es mir vor, als sei ich in der Nachspielzeit meines Lebens. Es ist eine kostbare Zeit. Eine Zeit, die ich nicht vertun oder verschlafen will. Eine Zeit, in der ich noch einmal neu das Öl meiner Erreichbarkeit für Gott entdecke und einsammle, es läutere und dafür dankbar bin. Weil es das ist, was bleibt, wenn ich alles lassen muss. Eine Zeit, in der ich mich – zusammen mit denen, die Gott mir gibt – einlassen will auf die vielen Begegnungen mit Ihm und vorbereite auf die eine, bleibende Begegnung mit Ihm.

Heute hatte mein Zug wieder Verspätung. Ich nutze die Zeit und kaufe mir ein Käsebrot. Und dabei frage ich mich, was es braucht, dass wir unser Öl wiederfinden – und ob die törichten Jungfrauen zu ihrem Öl und zu Seinem Licht wohl noch gekommen sind.

Fra' Georg Lengerke


Nov 12, 202304:36
Auf Heuchler hören Mt 23,1-12

Auf Heuchler hören Mt 23,1-12

Jetzt mal ehrlich: Es gibt Menschen, von denen ich mir ungern etwas sagen lasse. Entweder weil sie mich oder andere schlecht behandelt haben. Oder weil ihr Verhalten und ihre Worte regelmäßig eklatant auseinanderfallen. Oder einfach deshalb, weil sie ansonsten Ansichten vertreten, die ich nicht teile oder denen ich meine, heftig widersprechen zu sollen.
Ich vermute übrigens stark, dass die allermeisten von euch Lesern oder Hörern solche Menschen ebenfalls kennen. Und dass sehr viele Zeitgenossen sich von so wahrgenommenen Menschen gar nichts mehr sagen lassen, sondern sie meiden, so gut es geht. Entscheidend ist dann nicht mehr, was einer sagt, sondern wer es sagt.
Das ist verständlich. Und ich gestehe, dass auch ich dieser Versuchung nicht immer gleich gut widerstehen kann.
Aber eine solche Verweigerung ist auch gefährlich. Und zwar aus mindestens zwei Gründen:
Einmal kann es passieren, dass ein solcher Mensch mir etwas Wichtiges, Richtiges oder Wegweisendes zu sagen hat. Über eine drohende Gefahr oder eine bevorstehende Chance, über eine lebensrelevante Erkenntnis oder – was besonders schmerzhaft ist – über mich.
Und zweitens ergibt sich bei solcher Verweigerung eine negative Abhängigkeit. Wenn der andere schlau ist, wird er fortan immer wieder Dinge sagen, die wahr sind, und Auffassungen vertreten, die ich teile, denen ich mich nun aber nicht mehr anschließen mag. Nicht etwa, weil sie nicht wahr wären. Sondern nur weil ich mit ihm nichts mehr zu tun haben will und bereit bin, mich dafür zu verbiegen, wie es nur irgendwie geht.
Wenn ich ein parteilich organisierter Verfassungsfeind wäre, würde ich es ungefähr so machen.
Ein ähnliches Phänomen gibt es auch im Glauben: Unglaubwürdige Menschen sagen uns glaubwürdige Dinge. Und ist das nicht in den allermeisten Fällen so? Würde ich alles in meinem Leben verwirklichen, worüber ich predige, wäre ich ein heiligmäßiger Mann. Würde ich nur noch das predigen, was ich im Leben auch verwirkliche, müsste ich fast immer die Klappe halten. Nähme ich nur ganz gute Menschen ganz ernst, würde ich dumm sterben. Oder jung. Denn auch der Rat eines Durchschnittsmenschen kann Leben retten.
Jesus macht diese Unterscheidung im Evangelium überdeutlich: „Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer.“ Sie haben gewissermaßen den „Lehrstuhl“ für die Offenbarung Gottes inne. In der kennen sie sich gut aus. Und zwar auch dort noch, wo ihre Lebensführung davon nichts zu wissen scheint.
„Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen“, fährt Jesus fort, „aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht.“ Es gibt innerhalb und außerhalb der Kirche eine Aversion gegen Worte, die nicht von Taten bewahrheitet werden. Ich teile diese Aversion.
Aber das ändert nichts daran, dass die Worte dennoch wahr und wichtig sein können – selbst wenn der, der sie sagt, zu ihrer Verwirklichung entweder nicht willens oder gerade nicht in der Lage ist.
Vielleicht sollten sich die Christen wieder daran erinnern lassen, dass es ja gar nicht ihre eigenen Worte sind, die sie weitersagen und – möglichst „authentisch“ – im Leben verwirklichen sollen. Es ist vielmehr das Wort Gottes, das sie selbst erzählt bekommen und angenommen haben. Ein Wort, dass auch in den Worten fehlbarer, sündiger, manchmal auch heuchlerischer Menschen weitergesagt wird und das dennoch von denen, die es Gott glauben, als Gottes Wort angenommen wird.
Mich berührt die Demut und die Geduld Gottes. Und dass er mir von sich auch diejenigen erzählen lässt, mit denen ich mich schwertue.
Natürlich höre ich Gutes lieber von guten und Heiliges lieber von heiligmäßigen Menschen. Aber je mehr Freude ich an dem habe, was ich von Gott höre, um so weniger ärgert es mich, dass ich dafür manchmal auch auf Heuchler hören soll.
Fra' Georg Lengerke
Nov 05, 202304:28
Denkend lieben Mt 22,34-40

Denkend lieben Mt 22,34-40

Überall große Gefühle. In Filmen und Büchern, in Netzwerken und in der Werbung, auf Partys und Demonstrationen, in Parteien und in der Kirche, in Beziehungen oder in der Vorstellung von ihnen. Unsere Zeit schätzt die Emotion, das Empfinden und die Empfindsamkeit sehr hoch und lehnt das allzu Rationale, Verkopfte und Komplizierte ab.

Mit der einseitigen Betonung des Gefühls und der Empfindsamkeit geht aber auch eine niedrige Schwelle des Empörtseins und Verletztseins einher. Und die hat Folgen für unsere Beziehungsfähigkeit.

Jesus wird gefragt, was das Wichtigste im Leben sei. Als Antwort zitiert er zwei Stellen aus dem Alten Testament: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.“ Und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Allerdings gibt es bei dem Gebot der Gottesliebe eine kleine Änderung: Im zitierten Buch Deuteronomium wird gesagt, Gott solle „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ geliebt werden. Im Evangelium steht da statt „mit ganzer Kraft (dynamis)“ „mit deinem ganzen Denken (dianoia)“.

Diese kleine Änderung ist von großer Bedeutung. Offenbar sollen wir nicht nur herzlich und innerlich, gemütvoll und leidenschaftlich, sondern auch denkend lieben.

Es hat in der Geschichte der Kirche immer wieder Bewegungen und theologische Schulen gegeben, in denen das Denken gegen das Fühlen ausgespielt und ein irrationales und gefühlsorientiertes Glauben und Lieben propagiert wurde. Die Kirche hat sich dagegen immer gewehrt. Glaube und Liebe brauchen beides: Herz und Verstand, Empfindung und Vernunft.

Zur Liebe gehört auch, sich lieben zu lassen und sich ergreifen zu lassen von einer Dynamik, die unser Verstehen und Begreifen letztlich übersteigt. Aber dennoch ist es wichtig, dass wir die Dynamik selbst verstehen und erkennen, wohin sie uns führt. Was mitreißend ist, ist noch lange nicht gut.

Thomas von Aquin sagt, alle Sünde komme aus der „ungeordneten“ Liebe zu sich selbst. Liebe kann also in der Tat Sünde sein, wenn sie in die falsche Richtung mitgerissen wird.

Mich hat diese Woche die Frage beschäftigt, was das für mich heißt: „mit meinem ganzen Denken lieben“.

Gott lieben bedeutet zugleich Jesus Christus lieben, in dem er sich uns als Mensch offenbart – und dann auch meine Nächsten, die er nicht ohne mich lieben will. Gott in Jesus „denkend lieben“ heißt für mich:

1. An Jesus denken. Nach ihm fragen: nach seinem Ergehen und seinen Wegen, nach seinen Absichten und seinem Willen. In den Erzählungen aus seinem irdischen Leben, aber auch als unsichtbar Gegenwärtigem in dieser meiner Stunde. In allem ihm denkend verbunden sein.

2. Von Jesus Christus gut denken. Für ihn auch im Krisen- und Verdachtsfall die Unschuldsvermutung gelten lassen und zunächst das Gute annehmen. Seine Aussage im Zweifelsfall zu retten und vom Besten ausgehen, das er gemeint haben könnte (Ignatius von Loyola).

3. Bedenken, was Gott (in der Heiligen Schrift, in Jesus, in seinen Zeugen) gesagt hat und noch sagt. Seine Worte „im Herzen bewegen“, sie mir einprägen, sie immer tiefer verstehen und in meinem Leben wirksam werden lassen. Die Engländer haben dafür das schöne Wort „to ponder“.

4. Mit Christus mitdenken. Sein Denken kennen und verstehen lernen. Mit seinen Gedankengängen vertraut werden und sie mitvollziehen – besonders sein Denken vom Menschen.

Wenn wir Gott in Jesus Christus so „denkend lieben“, beginnt eine Veränderung:

Wir werden souveräner im Umgang mit unseren Gefühlen, die wir besser verstehen und die weniger Macht über uns haben.

Wir werden mitgenommen in eine Intimität mit Gott und eine Bewegung in ein erfülltes Leben mit den Anderen, die unser Verstehen übersteigen.

Und wir beginnen von unseren Nächsten anders zu denken. Auch da, wo unser Gefühl vielleicht zunächst zurückweicht oder zögert. Nüchterner und zugleich liebender.

Fra' Georg Lengerke

Oct 29, 202305:03
Divine Branding - Göttliches Markenzeichen Mt 22,15-21

Divine Branding - Göttliches Markenzeichen Mt 22,15-21

Am Flughafen stehe ich vor einer riesigen Leuchtreklame. Den Schauspieler darauf kenne ich. Er hat mir mehrere Geschichten erzählt, die mich bewegt und beschäftigt haben. Nun steht er vor einem Abendhimmel und schaut markig an mir vorbei in die Ferne. Neben ihm eine Lampe, für deren Hersteller er Werbung macht.

Irgendwie fühle ich mich ausgetrickst. Meine Verehrung für seine Rolle in einer für mich wichtigen Geschichte wird genutzt, um mir eine Lampe aufzuschwatzen, die ich nicht haben möchte.

Die Verbreitung einer Marke nennt man in der Wirtschaft „Branding“. So wie in der Viehwirtschaft Rinder mit dem Brandzeichen ihres Eigentümers versehen werden, wird eine Identifikation zwischen einer Marke und bestimmten Gütern hergestellt.

Als Schauspieler stand der Mann auf der Leuchtreklame für Geschichten, die eine weitergehende Bedeutung haben. Mal als Bösewicht, mal als Held. Hier am Flughafen steht er nur noch für das Branding einer Lampenfirma, deren Vertreter er geworden ist.

Mich erinnert das an das buchstäbliche Branding in der amerikanischen Serie „Yellowstone“. Die Cowboys der gleichnamigen Farm sind Leibeigene geworden. Sie tragen auf der Brust ein Brandzeichen, ein „Y“. Sie gehören dem Farmer. Wie die Farm und das Vieh.

Um eine Art Branding geht es letztlich auch in der heute gelesenen Auseinandersetzung im Evangelium.

Zwei verfeindete Gruppen tun sich gegen Jesus zusammen. Sie sind von lobhudelnder Freundlichkeit und wollen ihm mit einer Frage eine Falle stellen: „Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht?“, fragen sie. Die einen möchten von ihm hören, dass man keine Steuern zahlen darf, um ihn als Aufrührer anzuklagen. Die anderen wollen von ihm hören, man dürfe Steuern zahlen, um ihn als Kollaborateur mir den Römern zu denunzieren.

Jesus beantwortet die Frage nicht. Er lässt sich einen Silberdenar geben und fragt zurück: „Wessen Bild und Aufschrift ist das?“ „Des Kaisers“, antworten seine Widersacher. Darauf Jesus: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“

Aber was ist denn „des Kaisers“? Und was ist „Gottes“? Wir können die Frage allgemeiner stellen: Wem kommt was zu? Wem schulden wir was?

Dem Kaiser, der „Obrigkeit“, oder der Gemeinschaft schulden wir Gehorsam gegenüber den Regeln, einen Anteil an den Kosten, eine Mitwirkung zur Erreichung gemeinsamer Ziele. Aber wir schulden ihnen nicht uns selbst. Wir gehören ihnen nicht.

Gott aber kommt zu, was keinem Menschen zukommt: Als erstes Dankbarkeit für alles, was ist, für alle Geber und alle Gaben. Dann eine Liebe, die alles kosten darf. Und dass ich Ihn in allen Dingen suche und Seinen Willen tue. Schließlich kommt allein Ihm Anbetung zu, in der ich mich und die Meinen Ihm unbedingt anvertraue und von Ihm alles erhoffe und erwarte.

Für die frühen Theologen der Kirche geht es bei der Geschichte mit der Steuerdrachme nicht nur darum, wem was gehört und zukommt. Es geht darum, wem und zu wem wir gehören.

„Diejenige Goldmünze gehört dem Kaiser, die sein Bild trägt“, schreibt Hilarius von Poitiers im vierten Jahrhundert. „Die Münze aber, die Gott gehört, ist der Mensch, in den das Bild Gottes eingezeichnet ist. Darum gebt euren Reichtum dem Kaiser, euer reines Gewissen aber bewahrt für Gott.“

Auch in der Kirche gibt es also eine Art Branding. Aber ein ganz anderes als das am Flughafen oder das in „Yellowstone“. Sie spricht von einem „unauslöschlichen Prägemal“, das wir durch Glaube und Taufe tragen. Eine Art „divine branding“, ein göttliches Markenzeichen.

Wir gehören nicht dem Kaiser und keiner Macht der Welt. Wir haben uns nicht verkauft. Wir gehören Jesus Christus. Der will sich uns einprägen. Nicht damit wir ihm gehören, wie die Cowboys dem Farmer oder der Vertreter der Marke. Sondern damit wir wieder werden, was wir ursprünglich sind:

Menschen, die zur Liebe befreit sind.

Fra' Georg Lengerke

Oct 22, 202304:52
Zieht Euch um! Mt 22,1-14

Zieht Euch um! Mt 22,1-14

Als Abgeordneter eines deutschen Parlamentes unternahm ein Freund von mir eine Auslandsreise in einer Gruppe von Parlamentariern verschiedener Parteien. Normalerweise, sagt mein Bekannter, herrscht bei solchen Reisen abseits der medialen Öffentlichkeit ein gutes kollegiales Einvernehmen über Parteigrenzen hinweg.

Hier aber waren zwei dabei, die so taten, als sei der jeweils andere nicht da. Sie sahen sich nicht an, sprachen nicht miteinander und gaben sich nicht die Hand. Nicht, weil einer dem anderen etwas getan hätte, sondern weil sie verschiedenen Parteien angehörten und einer mit dem anderen nichts zu tun haben wollte.

Der Freund ist politisch nicht unerfahren. Aber solche Feindseligkeit, sagt er, sei ihm neu. Und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kirche.

Im Evangelium erzählt Jesus heute ein Gleichnis vom Reich Gottes, das er mit einer antiken Königshochzeit vergleicht: Ein König lädt zur Hochzeit seines Sohnes ein. Alles ist bereit. Doch die mehrmals Eingeladenen sagen aus lächerlichen Gründen ab und misshandeln die Boten. Der Kreis der Eingeladenen weitet sich aus. Die Boten, sagt Jesus: „holten alle zusammen, die sie trafen, Böse und Gute, und der Festsaal füllte sich mit Gästen.“

Jesus spricht hier von der Kirche, vom Leben in Gemeinschaft mit Gott, das auf Erden beginnt. Zu ihr gehören „Böse und Gute“. Das muss mir klar sein, wenn ich dabei sein will. Ich finde mich nicht nur unter Freunden oder unter guten Menschen wieder, weder in der „Allianz der Anständigen“ oder bei der „Achse des Guten“. Ich finde mich wieder unter „Bösen und Guten“, die von einem gemeinsamen Gastgeber gerufen wurden und später gesandt werden.

Das scheint mir eines der großen Leiden in der Kirche heute zu sein: Dass wir die nicht ertragen, die wir für böse halten oder die wirklich „Gutes unterlassen und Böses getan haben“. Wir ertragen sie nicht, obwohl wir in jeder Messe bekennen, dass wir auch zu ihnen gehören.

Es gibt ein schönes Wort von Gregor dem Großen (+604 nach Chr.) über die Einladung an Böse und Gute. Er schreibt: Jesus „sagt das, weil in dieser Kirche weder die Schlechten ohne die Guten, noch die Guten ohne die Schlechten sein können. Und wer sich weigert, die Schlechten zu ertragen, der kann selbst nicht gut sein.“

Es geht also wieder einmal nicht um die Anderen, sondern um mich. Ich soll „die Schlechten ertragen“, wenn ich gut sein – oder besser: gut werden will.

Das ist mit dem Hochzeitsgewand gemeint. Einer der Gäste hat keines an, weiß sich nicht zu rechtfertigen und fliegt raus.

Das Anziehen eines Kleides ist im Alten Testament ein Bild für den Menschen, der von Gott geschmückt wird für die Gemeinschaft mit ihm. Im Neuen Testament ist es ein Ausdruck für die Haltung Gottes zu uns, die unsere Haltung zueinander prägen soll: „Bekleidet euch also, als Erwählte Gottes, Heilige und Geliebte, mit innigem Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld!“ schreibt Paulus der Gemeinde in Kolossä (Kol 3,12). Mit dem Erbarmen und der Güte, die Gott für Euch hat und die Ihr für die anderen haben sollt.

An diesem Wochenende werden neue Mitglieder in die Gemeinschaft junger Malteser aufgenommen. Auch wenn es bei uns kein Ordensgewand gibt, ist das eine schöne Gelegenheit, dass wir uns zusammen mit ihnen „geistlich umziehen“. Dass wir die alten Klamotten des Ressentiments und der Parteilichkeit ablegen und das Hochzeitsgewand von Gottes „Erbarmen, Güte, Demut, Milde und Geduld“ anziehen. Erstens, weil wir sie nötig haben. Zweitens, weil wir sie füreinander brauchen, wenn wir uns nicht entzweien lassen wollen.

So schafft Gott aus „Bösen und Guten“ eine Gemeinschaft von Menschen, die in aller Verschiedenheit und allem Ringen um den rechten Weg einander und den Fremden im Tiefsten gut sind.

Denn sie haben miteinander erfahren, dass Gott ihnen gut ist. Und zwar um jeden Preis.

Fra' Georg Lengerke

Oct 15, 202304:38
„Sie werden ihrem Machwerk gleichen.“ (Psalm 115,8)

„Sie werden ihrem Machwerk gleichen.“ (Psalm 115,8)

Biblische Anfragen an die Künstliche Intelligenz (KI)

Deutschlandfunk, „Am Sonntagmorgen“, 8. Oktober 2023

„Wieso »biblische Anfragen an die Künstliche Intelligenz«?“, fragte mich ein Bekannter, als er vom Titel dieser Sendung hörte. „Zur Zeit der Bibel gab es doch noch gar keine Künstliche Intelligenz!“ Das stimmt. Aber viele Fragen, vor die uns die Entwicklung der digitalen Netzwerke stellt, sind gar nicht neu: Was ist der Mensch und was die Maschine? Dienen die Dinge dem Menschen oder der Mensch den Dingen? Und was darf der Mensch an die Maschine delegieren?

Wenn Sie hier bereits ein Unbehagen verspüren, dann sind wir schon mitten im Thema. Sind die treue Mitbewohnerin „Alexa“, der Bot ChatGPT, der Pflegeroboter „Pepper“ oder der Segenscomputer „BlessU-2“ wirklich nur „Maschinen“? Sprechen wir nicht mit ihnen? Müssen wir ihnen nicht dankbar sein? Ist also das Wort „Maschine“ für diese Alltagsgefährten nicht geradezu respektlos?

Als künstliche Intelligenz bezeichnen wir die Fähigkeit einer Maschine bzw. eines Netzwerks von Rechnern, eine stetig wachsende Menge von Informationen auf eine dem menschlichen Gehirn nachempfundene Weise zu verarbeiten und zu kombinieren.

Wie stehen diese hochkomplexen Computersysteme nun zum Menschen?

Segen der Technik?

In der biblischen Schöpfungsordnung ist der Mensch einzigartig. Gott schafft den Menschen als sein „Bild“ (Gen 1,27). Damit ist nicht eine Darstellung oder Kopie Gottes gemeint, der woanders im Original zu bewundern wäre. Der Mensch ist vielmehr als „Versichtbarung“ des unsichtbaren Gottes geschaffen.

Die Berufung und das Ziel des Menschen ist nach der Heiligen Schrift die vollendete Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen. Um diese Berufung zu verwirklichen und dieses Ziel zu erreichen, sind dem Menschen als Gaben Gottes die sichtbare Welt anvertraut und die Dinge in ihr, seine Begabungen und die Werkzeuge, die er baut.

Zunächst also ist Dank angesagt. Dank für die Gaben der Schöpfung. Dank für die Begabung von Menschen. Und Dank für das, was Gott den Menschen erfinden und bauen lässt. Und schließlich Dank für das, was dem Menschen durch die Technik an Gutem geschenkt ist: die Heilung von Krankheiten, die Abwendung von Katastrophen und die Abnahme von Arbeit, die den Menschen von sich selbst entfremden, weil sie stumpf, gefährlich oder krankmachend ist.

Der Segen der Technik besteht darin, den Menschen immer mehr zu jenen Arbeiten und Beschäftigungen zu befreien, die seiner Berufung entsprechen. Vom Fluch der Technik wäre zu sprechen, wo sie den Menschen von sich selbst entfremdet. Wir haben die Wahl zwischen Segen und Fluch (vgl. Dtn 30). Wir sollen die neuen Rechensysteme nutzen, wo sie der Erreichung unseres Lebenszieles dienen, und sie lassen, wo sie uns daran hindern – und wo nicht mehr sie uns, sondern wir ihnen dienen.

Was ist der Mensch?

Mit der neuesten Generation von Computern und der sogenannten „künstlichen Intelligenz“ stellt sich allerdings noch eine grundsätzlichere Frage. Denn diese sind nicht mehr bloß eine werkzeugliche Erweiterung des Vermögens des Menschen, sondern ein vermeintliches Gegenüber, das eigenständig zu kommunizieren scheint.

Gott schafft den Menschen „nach seinem Bild“, sagt die Bibel. Der Mensch schafft den Computer „nach seinem Bild“, sagt die Gegenwart. Allerdings nicht als Versichtbarung des Menschen, den man ja schon sehen kann, sondern als seine Imitation.

Was unterscheidet nun das Original von seiner Imitation? Auch die neuesten Rechensysteme sind ein technisches Produkt. Wie komplex auch immer sie werden, sie bleiben theoretisch berechenbar und nachvollziehbar.

(Der ganze Text erscheint im Laufe des Vormittags auf BetDenkzettel.de -- Zum Hören gibt es den Beitrag bereits jetzt.)

Oct 08, 202314:30
Anspruch und Wirklichkeit Mt 21,28-32

Anspruch und Wirklichkeit Mt 21,28-32

Ich sitze im Zug nach Köln und habe 23 Minuten Verspätung. Der BetDenkzettel, den ich gerade schreibe, hätte schon gestern fertig sein sollen. Auf eine für vorgestern versprochene Antwort warte ich noch heute.

Anspruch und Wirklichkeit fallen auseinander. Dauernd. Das ist einerseits ärgerlich, andererseits ist das normal.

Normal ist es, weil Anspruch und Wirklichkeit zwei verschiedene Sachverhalte sind. Die Wirklichkeit ist das, was ist. Der Anspruch ist das, was sein soll. Die Wirklichkeit ist, dass ich um 6 Uhr schlafe. Der Anspruch ist, dass ich um 6 Uhr aufstehe.

Ärgerlich ist das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit, wenn beide nicht zueinander finden und es um wichtige Dinge geht.

Noch ärgerlicher ist, wenn Menschen beginnen, sich daran zu gewöhnen, dass Anspruch und Wirklichkeit unverbunden nebeneinander stehen.

So geht es mir gerade mit der Bahn. Manchmal auch in der Kirche oder mit manchen Menschen. Und leider manchmal auch mit mir selbst.

Ganz schlimm wird’s, wenn dieses Auseinanderfallen den Enttäuschten dann irgendwann wurscht ist. Der unverwirklichte Anspruch ist dann nur noch Gerede. Und die unangesprochene Wirklichkeit gilt als unverbesserlich oder nicht mehr zu retten.

Dahin soll es bei mir nicht kommen, wenn es um meine Nächsten geht. Oder um die Kirche. – Oder sogar um die Bahn.

Wenn Anspruch und Wirklichkeit sich partout nicht finden und nicht übereinkommen, dann stimmt entweder etwas mit dem Anspruch oder mit der Wirklichkeit nicht.

Jesus erzählt von zwei Söhnen, die der Vater zum Arbeiten in seinen Weinberg schickt. Der eine sagt nein und geht doch. Der andere sagt ja und geht nicht.

„Wer hat den Willen seines Vaters erfüllt?“, fragt Jesus. „Der Erste“, lautet die richtige Antwort seiner Zuhörer. Da dachten sie vielleicht noch, Jesus wolle mit ihnen ein akademisches Gespräch über das rechte Tun führen.

Doch dann werden sie mit dem ungeheuerlichsten Vergleich konfrontiert: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ Nicht, weil „Zöllner und Dirnen“ in Wirklichkeit die besseren, authentischeren oder normaleren Menschen wären. Wir dürfen uns da ruhig den schlimmsten Vergleich mit Leuten vorstellen, mit denen wir ungern in einem Atemzug genannt werden würden…

Die „Zöllner und Dirnen“ sind die, deren Lebenswirklichkeit soweit vom Anspruch Gottes, also vom Anspruch des Guten, der Wahrheit und der Liebe entfernt ist, dass die „normalen Leute“ sich gegraust abwenden. Damals wie heute.

Sie, sagt Jesus, haben der Stimme Johannes‘ des Täufers, der Stimme der Gerechtigkeit und der Umkehr geglaubt. – Ihr aber nicht. Und selbst als sie geglaubt und sich bekehrt haben und Ihr das gesehen habt, habt Ihr nicht geglaubt.

Ihr habt Euch unerreichbar gemacht. Ihr habt Euch eingerichtet. Ihr merkt gar nicht mehr, dass Ihr nur noch so tut, als ob.

Die „Zöllner und Dirnen“, die sich vom Anspruch Gottes haben erreichen lassen, stellen mich vor die Frage, ob das bei mir so ist: Ob ich ja sage, aber nicht tue, was ich bejahe. Oder ob ich nein sage und es mich reuen sollte.

Wie wäre das, wenn der Anspruch des Guten und die Wirklichkeit eins wären? Es gibt einen Menschen, bei dem das der Fall ist. Jesus ist das Wort und der Anspruch Gottes in Person. Jesus ist, was er sagt. Und er sagt, was er ist.

Ihm kann ich glauben, dass sein Anspruch keine Überforderung, keine Verfremdung und keine Verengung meines Lebens bedeutet. Sondern ein Wachsen ins Eigentliche und in eine immer größere Freiheit.

Und an ihm liebe ich, dass er das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit erträgt – bis dahin, dass er ausgespannt zwischen Himmel und Erde stirbt und noch im Sterben liebt.

Und mit ihm will ich die unerlöste Welt aushalten und lieben, weil seine Liebe die einzige Macht ist, die die Welt und uns Menschen erlösen und heil machen kann.

Und dann ist die Deutsche Bahn mein kleinstes Problem.

Fra' Georg Lengerke


Oct 01, 202304:43
Heimweh nach Himmel Phil 1,20ad-24.27a

Heimweh nach Himmel Phil 1,20ad-24.27a

In der Nacht auf Sonntag vor zwei Wochen starb Ali. Ali war ein geistig behinderter Mann von 65 Jahren. Mit 19 war er in das Heim in Beirut gekommen, in die Obhut von Schwestern, die heute zum caritativen Rückgrat des Libanon gehören. 46 Jahre hatte er dort gelebt. Unter Bedingungen, die für uns in Deutschland unvorstellbar, dort jedoch seine Rettung waren.

Ali hatte sich auf die Woche mit den jungen Leuten aus Deutschland und dem Libanon gefreut. So sehr, dass er seit dem Winter mit einer jungen Frau die Monate, dann die Wochen und Tage gezählt hat, bis wir kamen und es in die Berge ging.

Ali hatte ein schwaches Herz. Am Samstagabend hörte es auf zu schlagen. Er konnte wiederbelebt werden und kam in die Klinik. Nachts kam noch sein Bruder zu ihm. Er starb am frühen Morgen.

Der Schmerz war groß. Vor allem bei denen, die ihn schon lange kannten und die Tage mit ihm gezählt hatten. Und bei denen, die diese Woche seine Nächsten waren, die Ersthilfe geleistet und bis ins Krankenhaus um ihn gekämpft haben.

Bei den Freunden aus dem Heim war der Schmerz etwas verborgener. Wenn sie an Alis Foto mit den Blumen vorbei gingen, merkte man, dass sie genau wussten, was geschehen war. Aber irgendwie hatte man den Eindruck, dass ein Abschied wie der von Ali ihnen ganz vertraut war. Ihnen ist der Tod vertrauter und der Himmel näher. So, als wäre der Himmel nebenan und der Tod die Tür dahin.

So ähnlich muss es für den hl. Paulus gewesen sein. Das „Sein bei Christus“ von Angesicht zu Angesicht, ist für ihn so plausibel und so lockend und beglückend, dass er sagen kann „für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn“ (Phil 1,21). Wenn er die Wahl hätte zwischen „weiterleben“ und „bei Christus sein“, so fragt er sich, was würde er wählen? Ist er nicht hier schon bei Christus? Doch. Christus hat ja versprochen, dass er bei den Seinen sein wird. Und ist die Welt nicht das, was Gott so lieb hat, dass er seinen Sohn dort hineinsendet, um sie durch ihren eigenen Hass hindurch zu lieben bis zu ihm hin? Doch.

Aber genau um diesen Weg zur Vollendung geht es. Ich kenne Liebende, denen es so geht wie Paulus. Sie mussten den liebsten Menschen gehen lassen und sehnten sich nun ein Leben lang danach, ihn wiederzusehen – in einem Leben, in dem sie einander nicht mehr genommen werden konnten.

So geht es Paulus. Er glaubt daran, dass Christus da ist, dass Christus sein Leben ist und für ihn, in ihm und mit ihm lebt. Aber zugleich erlebt er noch so vieles, was sein „Bei-Jesus-Sein“ stört, angreift, anficht und schmerzhaft macht.

Das Heimweh des Paulus nach dem Himmel ist keine Weltverachtung. Es ist ein Gegenstatement gegen jene gottlose Weltverliebtheit, die mit dem Tod den Himmel in die Ferne verdrängt – oder meint, sie könnte den Himmel auf die Erde holen. Jeder Versuch, den „Himmel auf Erden“ zu errichten, endete im Terror und mit einer wohlorganisierten Hölle für die, die an diesen Himmel nicht glauben mochten. Und zwar egal von welcher Ideologie dieser Versuch unternommen wurde.

Am Sonntagabend gab es ein Festessen. Wie am Ende eines jeden Camps mit den behinderten Freunden, die zu uns kommen. Es gab ein köstliches Essen. Und vor jedem Gang eine Aufführung. Es wurde gelacht und gesungen. Und an der Seite stand das Bild von Ali, die Blumen und die tagsüber gemalten Bilder seiner Freunde.

Ich musste wieder an das Festessen auf dem Zion denken, mit dem der Prophet Jesaja die Vollendung der Welt und den Himmel beschreibt. Dort, sagt der Prophet, wird die Hülle weggenommen, die alle Völker zudeckt, denn der Herr, fährt er fort, „hat den Tod für immer verschlungen und GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen und die Schande seines Volkes entfernt er von der ganzen Erde.“ (Jes 25,8).

Hier ist nicht der Himmel. Der Himmel ist nebenan. Aber hier fängt er an. Wo wir lieben mit dem, der die Liebe ist, und der mit Ali die ganze Welt nach Hause führen will.

Fra' Georg Lengerke


Sep 24, 202304:40
Grüße aus der Opferburg Mt 18,21-35

Grüße aus der Opferburg Mt 18,21-35

Warum fällt mir Vergebung schwer? Weil ich Unrecht erlitten habe. Und weil Unrecht nicht sein soll. Und weil da jemand ist, der etwas dafür kann, der die Verantwortung dafür trägt, der mir Wiedergutmachung schuldet.

Das mag sich Petrus gedacht haben, als er Jesus fragt, wie oft er eigentlich seinem Bruder vergeben muss.

Es ist kein Wunder, dass Vergebung mir schwer fällt. Denn Vergebung bedeutet, eine Schuld zu erlassen, die nicht beglichen wurde und vielleicht auch gar nicht mehr beglichen werden kann.

Wenn ich über meine Beziehung zu Menschen nachdenke, die mir gegenüber schuldig geworden sind, dann habe ich zwei Rollen.

Auf der Ebene der Tat bin ich das Opfer und der Andere ist der Täter. Auf der Ebene der Schuld jedoch bin ich der Gläubiger und der Andere der Schuldner. Auf der Ebene der Tat war ich unterlegen. Auf der Ebene der Schuld bin ich überlegen. Ich habe einen Anspruch gegen den Anderen. Er steht in meiner Schuld.

Meine Gefahr besteht darin, mich in beiden Rollen einzurichten:

In der Rolle des Opfers, das sich beleidigt zurückzieht, nicht mehr gut vom Anderen denkt und auch nicht mehr gut von sich selbst. Das die Begegnung vermeidet und sich selbst ungefähr so leid tut, wie das Opfer es eigentlich vom Täter erwarten würde.

Und in der Rolle des Gläubigers, der Macht über den Schuldner hat, den er vor dem Tribunal der Gerechtigkeit in der Hand hat. Vor allem dann, wenn dieser den Schaden nicht mehr gut machen kann und seine Schuld unbezahlbar ist.

Es lebt und herrscht sich ganz gut in der Opferburg, in der ich mich unerreichbar gemacht habe für die, die an meine Tür klopfen und um Vergebung bitten – oder auch nur aus der Ferne Versöhnung wünschen. Solange ich nicht vergebe, bin ich mächtig. Soll der Andere doch kommen… Oder sehen, wo er bleibt, der Schuft, mit seiner elenden, verdammten Schuld…

Aber je länger ich mich eingerichtet habe in der Opferburg, um so schmerzlicher geht mir auf, was für ein elender Burgherr ich dort bin. Ich bin eingesperrt. Ich kann nicht raus, ohne Angst zu haben, wieder und wieder Opfer zu werden.

Wenn es gut geht und ich nicht völlig in Anspruch genommen bin von Wut, Bitterkeit und Angst gegenüber meinen Schuldigern, fallen mir in der Einsamkeit meiner Opferburg dann irgendwann auch die ein, denen gegenüber ich schuldig geworden bin. Und nicht selten sind das dieselben Leute wie die, die mir gegenüber schuldig geworden sind. Vor allem da, wo einer von uns die Ungerechtigkeit des Anderen mit Ungerechtigkeit beantwortet hat.

Und auch denen gegenüber habe ich zwei Rollen – nur umgekehrt. Ich bin Täter der Tat und Schuldner der Schuld. – Und beides will ich nicht bleiben.

Aber ich will auch nicht wieder verletzt werden. Und ich will mir nicht die Blöße geben, zuzugeben, dass ich nicht nur Opfer, sondern auch Täter, nicht nur Gläubiger, sondern auch Schuldner bin. Was nun?

Im Gleichnis Jesu erlässt ein König seinem Beamten eine schier unbezahlbare Schuld. Dieser aber hält unerbittlich an der sehr viel geringeren Schuld seines Kollegen fest. Offenbar hat er die Vergebung nicht wirklich angenommen, die ihn seinerseits zur Vergebung befähigt hätte. Er wollte keine Vergebung. Weder für sich noch für seinen Nächsten.

Die irdische Lebensgeschichte Jesu endet mit seinem Leiden und Sterben am Kreuz. Und hier verbindet Er sich mit allen Opfern, die unschuldig leiden, und mit allen Tätern, denen eigentlich all das widerfahren müsste, was sie anderen angetan haben.

Jesus Christus ist in meine Opferburg gekommen. Als der, der mir vergeben und wegtragen will, was ich anderen angetan habe. Das will ich erbitten und zulassen. Und dann wird Er mir auch zu dem göttlichen Freund, der mit mir aus der Opferburg auszieht und denen vergibt, die – wie ich – Vergebung und einen Neuanfang nötig haben, wenn das Leben gut werden soll.

Fra' Georg Lengerke

Sep 17, 202304:33
Überführt werden wollen Mt 18,15-20

Überführt werden wollen Mt 18,15-20

Wo ein Streit eskaliert, da rückt der Friede in die Ferne. Doch es gibt auch eine Eskalation um des Friedens willen. „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt…“, dann sag’s ihm allein. Sag’s ihm mit Zeugen. Sag’s ihm vor der ganzen Gemeinde, sagt Jesus der jungen Gemeinde im Matthäusevangelium.

Im Griechischen steht da das Wort „elencho“, was „überführen“ bedeutet. „Überführt“ wird im Deutschen normalerweise ein Verbrecher seines Verbrechens. Seine Tat und seine Täterschaft sollen sichtbar gemacht und bewiesen werden.

In der frühen Kirche ist das „Überführen“ jedoch eine Aufgabe und ein Dienst an den Brüdern und Schwestern. Der heilige Paulus schreibt seinen Schülern Timotheus und Titus mehrmals, sie sollten die Geschwister im Glauben zurechtweisen, ermahnen und „überführen“.

Es geht hier um mehr als bloß um eine Korrektur. Es geht darum, dem fremd gewordenen Bruder den Spiegel vorzuhalten, damit er erkennt, was er getan hat und wie es um ihn steht, und ihn so als Bruder und für die Gemeinschaft „wiederzugewinnen“.

Solches Überführen und Überführtwerden ist eine Kunst. Und zwar sowohl vom Überführenden, als auch vom Überführten. Ich erinnere mich an ein Malteserprojekt, in dem ein früherer Leiter seinem Nachfolger (beide Anfang zwanzig) freundschaftlich zurief: „Biste bereit für `ne Correctio?“ So als wollte er sich selbst und dem anderen Mut machen, über eine unangenehme Sache zu reden. Die Sache ging gut aus und der Angesprochene ging stärker und aufrechter aus dem Gespräch hervor, als er es vorher war.

Darauf kommt es an: dass wir einander nüchtern und besonnen sagen und voneinander annehmen können, wo an Haltung oder Verhalten etwas nicht stimmt. Warum? Damit wir einander „wiedergewinnen“ und von anderen wiedergewonnen werden. Selbst dann, wenn wir in einer Sache unterschiedlicher Ansicht bleiben.

Um die Kunst des Überführens und des Sich-überführen-Lassens, steht es in der Kirche und in der Gesellschaft gerade nicht gut. Aber wo sie gelernt und geübt wird, da überwinden wir die um sich greifende Sprachlosigkeit, die den anderen nicht mehr nach dem beurteilt, was er sagt oder tut, sondern danach, was für einer er vermeintlich oder wirklich ist.

Die Lage ist ernst. Denn nicht miteinander zu reden, nicht mehr zu streiten, einander nicht „überführen“ oder nicht erkennen zu wollen, wo mein Gegner ein berechtigtes Anliegen hat, auch wenn ich ansonsten seine Meinung oder sein Anliegen nicht teile oder sogar bekämpfe – alles das gefährdet im Staat die Demokratie und in der Kirche die Einheit.

Und in der Kirche geht es um noch mehr. Wir glauben, dass das Wort Gottes sich uns auch durch die Schwestern und Brüder mitteilt. Die correctio fraterna, die geschwisterliche Korrektur ist eine Weise, wie Gott redet. Der Prophet Ezechiel lässt (in der heutigen Lesung) Gott sagen, dass wer sich vor dem Versuch drückt, den schuldig gewordenen Bruder wiederzugewinnen, selbst an diesem Bruder schuldig wird.

Wir brauchen Übung in „Überführung“ und Korrektur. Dort, wo wir es nötig haben, uns etwas sagen zu lassen, was unser Leben möglicherweise schmerzlich (und vielleicht rettend!) zum Besseren ändert. Und dort, wo wir uns zu einer Rückmeldung durchringen müssen, wenn wir nicht selbst am Unglück des anderen schuldig werden wollen.

Wer will, kann ja heute mal folgendes probieren: Bitten wir um eine (möglicherweise korrektive) Rückmeldung von jemandem, der uns kennt, schätzt und nicht schmeichelt. Und dann: Sagen wir jemandem, den wir kennen und schätzen, was ihm zu sagen längst überfällig ist. Und sei es nur eine schlechte Angewohnheit, über die viele reden, nur keiner mit ihm.

Das ist ein schönes Übungsfeld um zu entdecken, wie wir versöhnen und versöhnt werden können, wenn es einmal um Wichtiges – oder sogar um alles geht.

Fra' Georg Lengerke

Sep 10, 202304:17
Dahin, wo‘s wehtut Mt 16,21–27

Dahin, wo‘s wehtut Mt 16,21–27

Ob ich im Ernstfall tapfer bin? Ich weiß es nicht. Die Angst des Petrus um Jesus und um sich selbst jedenfalls ist mir sehr vertraut.

Im Evangelium gibt es keinen Menschen, der derartig scharf in den Senkel gestellt wird wie Petrus. Jesus hatte gesagt, er müsse nach Jerusalem gehen, werde dort leiden und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Das mit der Auferstehung wird Petrus überhört oder nicht verstanden haben. Aber dass Jesus wissentlich ins Verderben läuft, das kann er nicht zulassen: „Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!“

Hat Petrus nicht recht? Was soll das denn heißen, Jesus „müsse“ in Jerusalem leiden? Ist das etwa sein Schicksal, seine unabänderliche Bestimmung oder sein Fluch? Soll er halt nicht hingehen!

Und muss ein Freund seinen Freund nicht vor dem Leiden bewahren, ihn warnen, sich ihm in den Weg stellen, wenn der ins Verderben läuft?

Petrus hat zunächst einmal recht. Niemand zwingt Jesus, nach Jerusalem zu gehen und zu leiden. Und wer liebt, bewahrt den Geliebten vor dem Leiden, wo er nur kann.

Dennoch folgt eine Zurechtweisung, wie sie schärfer und für Petrus schmerzlicher nicht sein kann: „Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“

„Du Satan!“ Schlimmer geht’s nicht. Wenn sein Freundesdienst eine solche Reaktion hervorruft, muss Petrus irgendwas gründlich missverstanden haben – an Jesus und seinem Weg, an seiner Freundschaft zu Jesus und seiner eigenen Berufung, mit ihm zu gehen.

Jesus muss wirklich nach Jerusalem gehen. Nicht, weil er gezwungen würde. Sondern weil er in die Mitte seines Volkes, in die Mitte der Welt, in die Heilige Stadt Gottes gehen muss, um sich dort den Menschen und der Welt zu offenbaren. Auch wenn er weiß, dass sein Zeugnis nicht angenommen wird. Auch wenn er weiß, dass er von Menschen verworfen und verflucht und auf die schändlichste Weise getötet wird.

Er muss gerade dorthin gehen, weil die Liebe Gottes in Menschengestalt gerade dorthin gehen muss, wo sie bespuckt, ausgelacht und zu Tode gequält wird – dorthin, wo sie dennoch Liebe bleibt und als Liebe offenbar wird. Als Liebe zu denen, die ihn verneinen, quälen und töten. Und als Liebe zu denen, mit denen er verneint, gequält und getötet wird.

Jesus muss ein dunkles Wissen darum gehabt haben, dass der Vater ihn nicht im Tod lassen würde. Aber dieses Wissen hat sein Leiden nicht gelindert und seinen Schmerz nicht erträglicher gemacht. Denn größer als aller körperlicher Schmerz ist sein Leiden an dem Hass und der Schuld, an der Traurigkeit und Verlorenheit derer, die er liebt und die seine Liebe dennoch verwerfen.

Petrus wollte seinen besten Freund vor einer riesengroßen Dummheit und vor einem tödlichen Fehler bewahren. Darum stellte er sich ihm in den Weg.

Aber in Wirklichkeit hatte er sich – ohne es zu wissen – der Liebe in den Weg gestellt, die weder verborgen noch für sich bleiben darf, sondern dahin gehen muss, wo´s wehtut.

Ich kenne die Versuchung, mich der Liebe in den Weg zu stellen. Dort, wo ich denen, die mich lieben, nicht erlaube, an meine ungeliebten Schmerzstellen zu rühren. Und dort, wo ich Angst habe, mit der Liebe Gottes in die Not zu gehen.

Und das beginnt bei mir nicht erst dort, wo ich Grund zur Angst vor ernsthaftem Schaden hätte. Sondern schon dort, wo ich mich den Menschen, ihrem Urteil oder ihrer Not entziehe, wo ich mich abseits von ihnen eingerichtet habe und meine Ängstlichkeit zur Blockade geworden ist.

Darum geht’s: der Liebe nicht länger im Weg stehen und hinter Jesus her gehen; wollen, was Gott will, und lieben, was Gott liebt.

Fra' Georg Lengerke

Sep 03, 202304:13
Der Felserne Mt 16,13-20

Der Felserne Mt 16,13-20

„Wer man ist, das weiß man selbst am besten“, sagte dieser Tage eine Politikerin in den Abendnachrichten über den Kabinettsbeschluss zum neuen Selbstbestimmungsgesetz.

Ich habe da meine Zweifel. Manche Menschen kennen sich besser, manche schlechter. Und viele wollen sich am liebsten gar nicht kennen lernen, sondern jemand sein, der sie nicht sind. Und wenn sie das dann erkennen und der Enttäuschungsschmerz nachlässt, werden sie freier und froher als je zuvor.

Auch ich habe lange gebraucht, um mich halbwegs zu kennen. Dieser Lernweg verlief über ziemlich schmerzhafte Umwege. Ohne Menschen, die mich lieben und erkannt haben, was in mir steckt, was ich vermag, wie und wer ich bin, wüsste ich sehr wenig von mir. Ohne die ernüchternde, erhellende und bewährende Erfahrung meiner selbst im Umgang mit ihnen würde ich wahrscheinlich noch immer manchen Traum verteidigen von jemandem, der ich nicht bin und den es nicht gibt.

In den Berufungsgeschichten der Evangelien geht es oft um das Erkennen Jesu und das Erkanntwerden von ihm. Auch in dem Gespräch zwischen Jesus und Petrus während der Reise an die Jordanquellen bei Caesarea Philippi. Jesu fragt, was die Leute und was die Jünger vom ihm sagen.

„Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“, bekennt Petrus. Und daraufhin hört er, wer er selbst ist: „Du bist Petrus“, sagt Jesus zu dem, den er gerade noch mit seinem Namen „Simon Barjona“, „Simon, Sohn des Johannes“ angesprochen hatte.

Über die Bedeutung des Namens Petrus ist viel nachgedacht worden. Das Wort kommt vom griechischen petra, der Fels. Der griechische Name Petros heißt also nicht der Fels, sondern eher der Felserne. Das kann sich entweder auf seine eigene Person beziehen, der die Eigenschaften eines Felsens (wie Stabilität und Festigkeit) zugeschrieben werden, oder auf seine Verbundenheit mit einem Felsen, an dem er Halt und ein Fundament findet und so auch selbst zu einer Festigkeit, Klarheit und Entschiedenheit kommt, die ihm ohne die Verbindung zu diesem Felsen nicht eigen wäre.

Ich neige zu der letzteren Deutung. Denn im Evangelium wird uns von Petrus beides gesagt: dass er eine gutwillige, dominante und meinungsstarke Führungsfigur ist (und sein will), und dass er zugleich ungestüm, zu schnell im Urteil, zu sehr von sich überzeugt und am Ende feige ist und seinen Herrn verrät.

Beides, seine Stärken und Schwächen, wird Simon noch schmerzlich kennen lernen. In der Verbundenheit mit Jesus, der ihn bis auf den Grund erkannt hat, wird er lernen, sich selbst zu erkennen und sich anzunehmen, zu wachsen und zu lieben und in all dem ein Petros zu werden.

Der Felsen, auf dem die Kirche gebaut ist, ist nicht Petrus, sondern Jesus selbst – und die Beziehung zu ihm. In diesem Sinne deutet der heilige Paulus den Korinthern die Erzählung des wasserspendenden Felsens, der mit dem Volk Israel durch die Wüste zieht: „Sie tranken aus dem geistgeschenkten Felsen, der mit ihnen zog. Und dieser Fels war Christus.“ (1 Kor 10,4)

Die Kirche, so könnte man sagen, ist darauf gebaut, dass Menschen in Jesus Gott erkennen und von ihm erkannt werden. Petrus ist „der Felserne“, weil er mit dem Felsen verbunden ist und von dem Felsen her lebt, der Christus ist. Ihn hat er mit Gottes Hilfe erkannt. Von Ihm lässt er sich erkennen. Durch Ihn lernt er sich kennen und wird immer mehr der, der er von Gott her ist. Mit Ihm erkennt er auch seine Nächsten und lernt sie lieben, damit auch sie sich selbst und einander erkennen und in der Liebe wachsen.

Die Felsverbundenheit des Petrus ist ein Zeugnis, das im Dienst, im Amt und in der Person des Nachfolgers Petri weitergegeben wird.

Aber die Einladung, die Petrus und seine Nachfolger zu bezeugen haben, ergeht an alle: Wir dürfen Christus erkennen und uns von ihm erkennen lassen – und mit ihm auch einander erkennen.

Denn keiner kennt sich selbst von alleine. Den Menschen erkennt nur, wer ihn liebt.

Fra' Georg Lengerke


Aug 27, 202304:32
Tödliche und rettende Eifersucht Röm 11,13-15.29-32

Tödliche und rettende Eifersucht Röm 11,13-15.29-32

Eifersucht kann sehr leidvoll sein. Eifersucht ist Beziehungsneid. Entweder kommt sie aus der Angst, die Zuneigung eines Menschen zu verlieren, oder aus dem Schmerz, dass die Zuneigung einem anderen mehr gilt als mir. Eifersucht macht Menschen misstrauisch und lässt sie schlecht von sich und anderen denken.

Viele Paare und Freundschaften haben mit der Eifersucht zu kämpfen. Bewährte Mittel dagegen sind nach meiner Erfahrung Dankbarkeit, die Einübung von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit durch gute Kommunikation und schließlich eine gemeinsame Ausrichtung auf ein Drittes – auf Menschen (Kinder, Gäste, Freunde, eine Gemeinschaft), auf ein gemeinsames Werk, auf Gott.

In der Bibel werden viele Eifersuchtsgeschichten erzählt: Kain und Abel, Esau und Jakob, Joseph und seine Brüder, Saul und David, Maria und Marta, die Spannung zwischen den Aposteln und in der neutestamentlichen Gemeinde. In der christlichen Spiritualität wird die Eifersucht zusammen mit dem Neid unter die Laster und die Todsünden gezählt.

Mir ist das sehr plausibel. Denn gerade der Neid und die Eifersucht sehen und suchen das Leben vergeblich immer in dem, was ich nicht habe und nicht bin, und sehen es schwinden mit dem, was sich mir entzieht. Und wer das Leben dauernd schwinden sieht, der lebt schon im Schatten des Todes.

Entsprechend verwerflich ist es, jemanden absichtlich eifersüchtig zu machen. Ich erinnere mich an Kinder- und Jugendfreundschaften, in denen das zum Repertoire der Beziehungskämpfe gehörte: dass einer dem anderen den Entzug oder die Neuausrichtung der eigenen Zuneigung vorspielte. Sei es, um bei ihm eine Äußerung der Wertschätzung zu provozieren oder um ihm weh zu tun. Der damalige Kinderschmerz ist mir noch immer präsent.

Umso erstaunlicher, dass es in der Bibel auch Stellen gibt, an denen eine bestimmte Eifersucht als zwar schmerzliche, aber positive Liebeskraft verstanden wird. Eifersucht ist hier das schmerzliche Vermissen einer Beziehung, die möglich und heilsam wäre.

Das Buch Deuteronomium z.B. beschreibt die eifersüchtige Liebe Gottes, der um sein Volk kämpft und nicht duldet, dass es sich an Mächte bindet, die es für Götter hält, obwohl sie es nicht sind, und so in sein Verderben rennt.

Dann wird die Eifersucht der Völker beschrieben, die Israel, das Volk Gottes, umgeben. Sie sehen, wie dieses Volk nach den Geboten Gottes lebt und in der Beziehung zu ihm gedeiht, und staunen über diese „große Nation“ und „ein weises und gebildetes Volk.“ (Dtn 4,6).

Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu und der Bildung der ersten Christengemeinden kehrt sich die Eifersuchtsgeschichte für den hl. Paulus um: Er schreibt über seine jüdischen Schwestern und Brüder, er hoffe, „die Angehörigen meines Volkes eifersüchtig zu machen und wenigstens einige von ihnen zu retten“ (Röm 11,14).

Nicht mehr die Heidenvölker sind eifersüchtig auf das Volk Gottes. Sondern dieses Volk, in dem Gott Mensch wurde und zu dem Jesus gesandt war, soll eifersüchtig werden auf die Heiden, die an Jesus glauben, in ihm die Gegenwart des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs erkennen, und in Gemeinschaft mit ihm erfahren, wie Gott sie aus der Sklaverei von Schuld und Tod erlöst und herausführt…

Heute frage ich mich, wo ich Gemeinschaften von Christen so erlebt habe, dass ich schmerzlich vermisst habe, zu ihnen zu gehören und Anteil an ihrer Beziehung zu Gott zu haben. Und wo erleben Menschen die Kirche heute so, dass sie ahnen, dass ihnen ohne Gott etwas fehlt, und in einer Weise, in der sie den Wunsch verspüren, mit anderen so an Gott zu glauben und mit ihm zu leben, wie die Christen es tun?

Und ich höre die Anfrage an meine Gemeinschaft – an die Malteser im Großen und der Hausgemeinschaft in München im Kleinen: Leben wir in einer ehrlichen und befreienden, stärkenden und zukunftsfähigen Beziehung mit Gott, die Menschen schmerzlich vermissen, bei uns finden und dann zu ihrer eigenen machen können?

Fra' Georg Lengerke

Aug 20, 202304:43
Beieinander in der Unüberwindbarkeit Mt 14,22-33

Beieinander in der Unüberwindbarkeit Mt 14,22-33

Liebende wollen zueinanderkommen und beieinander sein. Um einander zu sehen. Um füreinander da zu sein – und miteinander da zu sein für andere.

Das ist nicht so einfach, sagt das Leben. Es gibt Hindernisse. Entweder zwischen den Liebenden oder in einem von beiden. „Sie konnten zusammen nicht kommen“, heißt es in der Ballade von den zwei Königskindern, „das Wasser war viel zu tief.“

Um das Zueinander-Kommen und das Beieinandersein von Liebenden geht es auch in der Erzählung vom Kommen Jesu zu den Jüngern im Boot auf dem See Genezareth. Und auch hier ist das Wasser im Gegenwind ein unüberwindliches Hindernis. Wasser ist hier ein Bild für alles, was die Liebenden hindert, zueinander zu kommen.

Zum Entsetzen der Freunde kommt Jesus über das Wasser zu ihnen. Auf eine schockierend unwahrscheinliche, eigentlich unmögliche Weise.

Wie sollen wir solche Wundererzählungen verstehen? Es scheint mir eindeutig, dass es sich nicht bloß um ein erzählerisches Bild handelt. Dafür sind die Evangelienberichte ansonsten zu nüchtern. Und wo Gleichnisse verwendet werden, werden sie immer als solche bezeichnet. Sagen wir es so: Es handelt sich um Verweise auf und Zeichen für eine unsichtbare Wirklichkeit, die sich so oder ähnlich wirklich ereignet haben. Die Jünger machen die Erfahrung, dass Jesus innerweltlich und leiblich zu ihnen auf eine Weise kommt, die menschlich nicht machbar ist und die das Unüberwindliche überwindet.

Was uns von Gott und die Liebenden voneinander trennt, das überwindet Gott in Jesus: Er nimmt einen menschlichen Leib an und überwindet den Abgrund der Sünde zwischen Gott und Mensch. Er überwindet den Graben des Hasses durch die Liebe, den Graben des Todes durch die Auferstehung und unsere zeitliche und örtliche Entfernung zu seiner geschichtlichen Menschwerdung durch die Sendung des Heiligen Geistes.

Ich habe erlebt, dass die Liebe eines Menschen die Wasser überwunden hat, die uns voneinander getrennt haben oder diesseits derer ich mich verrannt hatte. Diese Erfahrung hilft mir zu glauben, dass der, von dem die Christen sagen, dass er „die Liebe ist“, wirklich alle möglichen Hindernisse überwindet, um bei mir zu sein.

Wer liebt, der weiß auch, dass noch etwas dazukommt: nämlich die Ungleichzeitigkeit der Liebe. Wie viele Paare leiden daran: Sie ist bei ihm und für ihn da, aber er ist nicht bei ihr. Oder umgekehrt. – Sei es wegen Krankheit oder einer Persönlichkeitsveränderung, wegen anderer Prioritäten oder eines anderen Menschen, sei es aus Angst oder Ablehnung.

Wer anfängt, an Gott zu glauben, der beginnt zu erkennen, dass es Gott mit uns ähnlich geht: Gott ist immer bei mir. Aber ich bin nicht immer bei Gott – oft aus ähnlichen Gründen, wie in der Liebe zu Menschen.

Deshalb will Petrus auf dem See bei Jesus sein. Es genügt nicht, dass Jesus zu Petrus kommt. Der Jünger will seinerseits bei Jesus sein. Und so bittet er darum: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme!“ (Mt 14,28)

Ich meditiere diesen Satz manchmal weiter: Sag mir, dass ich es kann; sag mir, dass ich es darf und dass ich es wollen soll – weil Du es willst. Du hast alles getan, um bei mir zu sein. Nun lass mich Dir das Unglaubliche glauben: dass das Wasser mich trägt und ich mit Deiner Hilfe zu Dir komme. Schon heute. Mitten im Leben. Und einmal mit allen Liebenden im Licht.

Fra' Georg Lengerke

Aug 13, 202304:16
Mythos wird Faktum (Verklärung des Herrn, Mt 17,1-9)

Mythos wird Faktum (Verklärung des Herrn, Mt 17,1-9)

Viele alte Mythen erzählen von Göttern, die sterben und wieder auferstehen. Zum Beispiel die Geschichten von Balder, Adonis oder Bacchus. Worin besteht nun der Unterschied zu der Erzählung der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, seinem Tod und seiner Auferstehung?

In einem langen nächtlichen Gespräch mit zwei Freunden (einer davon J.R.R. Tolkien) fand C.S. Lewis die Antwort: „Nun, die Geschichte Jesu ist einfach ein wahrer Mythos: ein Mythos, der auf uns in der gleichen Weise wirkt wie die anderen, doch mit dem gewaltigen Unterschied, dass er sich tatsächlich ereignet hat.“ (C.S. Lewis an Arthur Greeves, 1931)

Nach der Verklärung Jesu auf dem Berg bestehen die Apostel darauf, dass sie nur das erzählen, was sie erlebt haben: „Wir sind nicht klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundtaten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe“, sagt der 2. Petrusbrief (1,16).

Aber wovon genau sind die Apostel Augenzeugen geworden? Vor einer Woche habe ich die Trauung eines Brautpaares gefeiert, die sich lieben lernten, als sie gemeinsam Trauzeugen von Freunden waren: Er vom Bräutigam, sie von der Braut. In der Ehevorbereitung hat uns das beschäftigt, was es bedeutet, wenn zwei Liebende Trauzeugen der Liebe eines anderen sind.

So haben wir miteinander die Texte aus der Heiligen Schrift gelesen, die von der Liebe Gottes zu seinem Volk in den Bildern von Braut und Bräutigam sprechen: In Hosea führt Gott sein Volk in die Wüste, umwirbt es und traut sich ihm an. Bei Jesaja schmückt sich die Braut für den Bräutigam und freut sich der Bräutigam über die Braut. Und im Evangelium ist Johannes der „Freund des Bräutigams“ Jesus (Joh 3,29), also so etwas wie der Trauzeuge der Welt für die Vereinigung von Gott und Mensch, die im Leben Jesu offenbar wird.

Zusammen mit dem Brautpaar ist mir klar geworden, dass Liebende ja immer auch „Trauzeugen“ für die Liebe Gottes zum Menschen sind. Und zwar nicht nur miteinander für andere, sondern auch einer für den anderen.

Bei vielen Trauungen kommt es einem so vor, als kämen zwei Menschen vor Gott, die ihn nun als Dritten hinzu- und um seinen Segen bitten. Und irgendwie stimmt das ja auch. Aber zuerst ist es andersherum: Nicht Gott kommt hinzu, sondern der liebende Mensch ist der Dritte, der hinzutritt zum geliebten Menschen, mit dem Gott sich schon längst in Liebe verbunden hat – in der Schöpfung, in der Taufe, im Glauben. Gott hat schon längst gesagt: „Ich nehme dich an…“. Und wenn Brautleute das einander sagen, dann stimmen sie ein in die Annahme Gottes, dann lieben sie mit der Liebe Gottes zusammen und bringen diese als Liebende zum Vorschein.

Gott hat sich mit meinem Nächsten schon vereinigt. Und zwar unbedingt und unauflöslich. Auch von dieser Verbindung sagt Jesus: „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ (Mt 19,6)

Bei der Verklärung Jesu auf dem Berg wird den drei Jüngern mit einem Schlag die Gegenwart Gottes und die Einheit von Gott und Mensch in diesem einen Menschen Jesus auf überwältigende Weise vor Augen geführt und ins Herz gebrannt.

Jesus Christus ist der vollkommen mit Gott verbundene Mensch – ja er selbst ist „wahrer Gott und wahrer Mensch“ (Chalzedon 451 n.Chr.). Und in seiner Menschwerdung hat sich Gott mit jedem Menschen verbunden, sagt das zweite Vatikanische Konzil. Nun kann der Mensch sich seinerseits mit Gott in Jesus verbinden, in dem er „auf ihn hört“ (Mt 17,5) und zu ihm gehört und mit ihm liebt.

Auch C.S. Lewis wurde etwas ins Herz gebrannt. Weniger spektakulär als auf dem Berg der Verklärung, sondern in einem nächtlichen Gespräch mit Freunden, die ihm weitererzählt haben, was die Apostel sagten: „Wir waren Augenzeugen … Wir haben die Stimme gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren.“ (vgl. 2 Petr 1,16.18)

In Jesus ist der Mythos ein Faktum geworden.

Fra' Georg Lengerke


Aug 06, 202304:38
Bitte um ein Nachtwort Mt 10,26–33

Bitte um ein Nachtwort Mt 10,26–33

Es wurde noch nie so viel geredet wie heute. Und noch nie war die Herausforderung so groß, herauszufinden und zu lernen, wie mit dieser ständig anwachsenden Flut von Worten umzugehen sei.

Für mich ist das eine tägliche Frage. Sowohl bei dem, was ich lese, höre und sehe. Als auch für das, was ich sage und schreibe.

„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet im Licht, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern“, sagt Jesus.

Die Christen könnten also meinen, es ginge vor allem darum, die Scheinwerfer und die Bühnen zu suchen, um zu reden und zu verkünden… Ja, aber was eigentlich?

Den ersten Jüngern wird gesagt, sie sollten das nahe gekommene „Himmelreich“, „das Evangelium“, „die Umkehr“ und „die Vergebung der Sünden“ verkünden.

Das sollen sie zum einen durch ihre Lebensweise tun und insbesondere durch ihr Dasein für ihre Nächsten. Zum anderen, indem sie den Menschen von Gott erzählen und sie mit Jesus Christus, mit seinem Wort und Wirken und mit der Geschichte Gottes mit seinem Volk von Adam bis heute bekannt machen.

Aber indem ich das schreibe, merke ich, dass das noch nicht alles ist. Dass etwas nicht stimmt, wenn die Kirche einfach nur mitredet und mit ihren – oft nicht mehr verstandenen – Worten (oder mit dem, was ohnehin schon von allen anderen gesagt worden ist) die Wortflut noch mehrt.

Die Christen sollen im Licht von dem reden, was Jesus ihnen „im Dunkeln“ sagt, und auf den Dächern verkünden, was ihnen „ins Ohr geflüstert“ wurde.

Was sagt Jesus denn „im Dunkeln“? Und was wird uns von ihm zugeflüstert?

Gestern hat die Kirche das Geburtsfest Johannes des Täufers gefeiert. Das ist für mich aus zwei Gründen ein besonderes Fest. Zum einen ist es das Patronatsfest der Malteser. Zum anderen ist es der Tag, an dem ich vor 23 Jahren zum Priester geweiht wurde. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich besonders hellhörig bin an diesem Tag.

Jedenfalls muss ich heute daran denken, dass in den Texten dieses Hochfestes mehrmals von einer Vorbereitungszeit in der Stille gesprochen wird.

Zacharias, der Vater des Täufers Johannes, erlebt eine Zeit der Stille, um die Sprache wiederzufinden. Nachdem er die Nachricht von der bevorstehenden Geburt eines Sohnes nicht glaubt, verstummt er für neun Monate – bis das Kind geboren ist. Außerdem scheint er in dieser Zeit auch taub gewesen zu sein, weshalb die Angehörigen ihn zuletzt „durch Zeichen“ fragen, welchen Namen das Kind bekommen soll.

Und von Johannes wird erzählt, er sei schon früh in die Stille der Wüste gegangen, bis das entscheidende Wort ihn findet und trifft. Er bleibt dort „bis zu dem Tag, an dem er seinen Auftrag für Israel erhielt“.

Je gewaltiger die Flut an Worten ist, die über uns hereinbricht, und je trunkener die Menschen von dem Wortrauschen werden, umso mehr ist es an der Zeit, dass Menschen auf das Wort Jesu im Dunkeln hören. Im Dunkel der Ungewissheit und der Angst, im Dunkel der zerbrochenen Beziehungen und Gewissheiten. Je lauter geredet wird, um so wichtiger ist es, still zu werden, um im Dauergerede das geflüsterte Wort von Gott zu vernehmen, auf das es ankommt.

Das Hören im Dunkel braucht Geduld. Das deutsche Wort Geduld und die lateinische patientia haben mit leidvollem Ertragen zu tun. Und das fällt schwer.

Viele Menschen sehnen sich danach, dass Gott ein Machtwort spricht, dass sich mit einem Schlag die Dinge klären oder wenden. Am besten im Sinn des eigenen Lagers und der eigenen Partei.

Ich bitte darum, dass Gott ein Nachtwort spricht. Und dass Menschen da sind, die nächtens wachen und in der Stille das geflüsterte Wort hören, das von seiner Liebe erzählt, die Geduld hat mit uns.

Und wenn der Wortnebel sich legt und ein neuer Morgen anbricht, wird das Gehörte weitergesagt und gerufen und gesungen werden können im Licht und von den Dächern um die Marktplätze der Welt.

Fra' Georg Lengerke


Jun 25, 202304:54
Die Ökumene der Erschöpften Mt 9,36-10,8

Die Ökumene der Erschöpften Mt 9,36-10,8

„Mami, ich bin müde", sagte die dreijährige Tochter von Freunden neulich, "Ich will ausruhen". Sprach's und wurde von ihrer Mami auf eine Kuscheldecke in ihrem Zimmer gelegt, wo sie bald schlummerte.

Das fand ich bemerkenswert. Anderen Kindern fällt es schwer, zuzugeben, dass sie müde sind. Sie werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen.

Mir sagte jemand, das komme davon, dass Eltern ihre Kinder zur Strafe ins Bett schicken. Schlafengehen sollen ist dann Ausschluss vom Leben. Wachbleiben wird zur Überlebensfrage.

Das ist nicht nur bei Kindern so. Vielen Menschen fällt es ein Leben lang schwer, zuzugeben, dass sie müde und erschöpft sind. Vor allem dort, wo sie sich über das definieren, was sie tun, wem sie nützen und was sie bewirken. Dann ist phasenweise Erschöpfung nicht einfach ein normaler und gesunder Vorgang, sondern ein Zeichen der Schwäche, des Versagens und des drohenden Entzugs der Teilhabe am Leben.

Vielleicht hören deshalb viele Christen im Evangelium als erstes eher, was sie tun sollen, als was sie sich gefallen lassen dürfen; eher was sie geben sollen, als was sie empfangen dürfen; eher was sie sagen sollen, als was sie hören dürfen.

Bevor ich mich also als erstes gleich neben die Apostel stelle, die Ärmel hochkremple und mich als Arbeiter in die Ernte schicken lasse, möchte ich mit Euch einen Augenblick innehalten. – Denn vielleicht gehöre ich ja zunächst zu denen, die Jesus ansieht und „im Innersten erschüttert“ ist, weil sie so müde und erschöpft sind.

Stellen wir uns vor, Jesus würde uns fragen, was uns in der Kirche müde und erschöpft sein lässt? Was würdet Ihr antworten?

Dass Ihr der Vertuschung von Schuld, der Verhärtung der Herzen und des Streits in der Kirche müde seid? Oder dass Ihr nur die viele Arbeit, aber nicht die große Ernte sehen könnt?

Ich fürchte, wenn wir in der Kirche nicht zugeben, dass wir müde und erschöpft sind, dann geht es uns wie den Kindern: Wir werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen.

Jesus sagt hier nichts zum Umgang mit Müdigkeit und Erschöpfung. Er ruft seine Jünger zu sich. Jeden einzeln. Jeden bei seinem Namen.

Ich stelle mir manchmal die Apostel vor, wie sie da stehen, bei ihrem Namen gerufen, mit ihrer je eigenen Geschichte, mit ihrem je eigenen Gesicht.

Wie werden die Gesichter der Apostel an jenem Nachmittag ausgesehen haben? Einige von ihnen werden auch zu den Müden und Erschöpften gehört haben. Auch ihr Gesicht ist ein Gesicht der Kirche in der Welt.

„Kirche“ kommt von griechisch „Kyriake“ – die dem Herrn Gehörende. „Ihr werdet mein besonderes Eigentum sein“, sagt Gott beim Bundesschluss mit seinem Volk im Buch Exodus (Ex 19,5, 1. Lesung). Nicht im Gegensatz zur Welt. Nein, die ganze Erde gehört mir, sagt Gott zu Mose, „ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“ Die ganze Welt gehört mir, aber ihr hört mich. Die ganze Welt gehört mir, aber ihr hört mir zu.

„Mami, ich bin müde!“ Vielleicht ist es an der Zeit, mit Jesus zu reden, wie das Mädchen mit seiner Mami. Vielleicht ist es an der Zeit, Gott unsere Erschöpfung zu bringen. Vielleicht ist das der Konsens, zu dem wir finden sollen: Eine Ökumene der Erschöpften, die sagt: „Herr, wir sind müde.“ Und die ihm wieder neu gehören, ihn hören, und ihm zuhören will.

Und wenn wir ihm lange zugehört haben, dann werden wir auch unsere Namen und die Namen unserer Brüder und Schwestern hören, wenn er sie ruft. Wir werden einander hören und zueinander finden.

Wenn wir ihm gehören und ihn hören, werden wir herausgerufen aus der Erschöpfung und der Müdigkeit. Wir werden nicht nur die viele Arbeit, sondern Seine große Ernte sehen. Und wir werden miteinander aufs Neue losgehen in Seiner Kraft und Seinem Namen und die Menschen lieben, wie er sie liebt.

Fra' Georg Lengerke


Jun 18, 202304:40
Corpus Toni – Predigt an Fronleichnam in Heilig Geist, München

Corpus Toni – Predigt an Fronleichnam in Heilig Geist, München

In den Feriencamps der Malteser mit geistig und körperlich schwerstbehinderten Menschen im Libanon feiern wir täglich die Heilige Messe. Vieles ist dabei anders. Der Unruhepegel ist meist höher als sonst. Es kann zu lautstarken Äußerungen von Gefühlen oder Bedürfnissen, von Freude oder Unmut kommen, die wir zu verstehen und auf die wir zu reagieren versuchen.

Wer das erste Mal dabei ist, wird vieles von dem, was dort im Gottesdienst geschieht, zunächst als störend empfinden. Entweder, weil ihm solche Äußerungen fremd und unverständlich sind, oder weil für ihn das Dasein füreinander und das Gebet derart verschiedene Sphären sind, dass das eine immer als Störung des anderen wahrgenommen wird.

Dabei hat das unverstellte Empfinden von Glück und Leid und das Vertrauen vieler der behinderten Freude – wenn man es einmal entziffern, begleiten und mitvollziehen gelernt hat – bereits vielen Volontären geholfen, besser zu verstehen, was wir in der Liturgie tun und von Gott empfangen. Auch mir.

Einmal – wir hatten die Lesungen gelesen und Fürbitte gehalten, die Gaben von Brot und Wein zum Altar gebracht und den Lobgesang der Engel (das „Heilig, heilig, heilig“) gesungen – trat während des Hochgebets Toni an den Altar.

Normalerweise haben wir eine 1:1 Begleitung, damit keiner sich selbst oder sein Umfeld in Gefahr bringt oder spektakuläre Verwüstungen anrichtet. Die wiederum wären in der Liturgie wirklich störend gewesen.

Toni war seiner Begleitung offenbar entwischt. Aber das beunruhigte mich nicht. Toni verwüstete in der Regel nichts. Im Gegenteil. Toni hat Trisomie. Je nach Stimmung ist er liebenswürdig, kann bis zur Verzweiflung seiner Begleiter dickköpfig und gerne auch etwas theatralisch sein. Er liebte die Liturgie, saß unweit des Altars am Rand und half den Ministranten bei ihrem Dienst.

Ich hatte mit dem Eucharistischen Hochgebet schon begonnen, als ich Toni neben mir an den Altar treten sah. Er legte seine Hände übereinander auf den Altar und beugte sich nach vorne, bis sein Stirn auf den Handrücken und seine Brust auf dem Altar zu liegen kam…

Ich hörte ein leises Raunen. Aber keiner unternahm etwas. Nach einer Schrecksekunde erkannte ich, dass auch ich nichts machen konnte. Jede disziplinarische Maßnahme meinerseits hätte mehr zerstört als wiederhergestellt. Und so betete ich weiter und kam zu den Einsetzungsworten, in denen der Herr vom Brot sagt: „das ist mein Leib“ und vom Wein „das ist mein Blut“.

Da erinnerte mich an etwas, was ich in einer Heiligen Messe gesehen hatte, die nach dem Messbuch von 1962 gefeiert wurde. Dabei lehnte sich der Priester bei den Einsetzungsworten so weit nach vorne, dass es schien, als würde er sich mit den Gaben von Brot und Wein auf den Altar legen.

Toni tat genau das. Es schien, als legte er sich mit den Gaben von Brot und Wein auf den Altar. So, als würde Jesus auch von seinem Leib sagen: „Das ist mein Leib“, so, als würden der Corpus Toni und der Corpus Christi eins.

Ich musste an die Gabengebete denken, in denen wir darum bitten, Gott möge mit den Gaben von Brot und Wein auch uns annehmen, damit mit den Gaben von Brot und Wein auch die Welt verwandelt wird.

Diese Verwandlung beginnt mit der Eucharistie. Und sie geht weiter mit denen, die eucharistisch zu Christus gehören. Paulus nennt nicht nur die Eucharistie, sondern auch die Kirche „Leib Christi“ (1 Kor 12,27; Eph 4,12). Toni erinnert mich bis heute daran, dass ich mit den Gaben von Brot und Wein mich selbst und alle Menschen zum Altar und vor Gott bringen soll, damit wir – wie es der heilige Augustinus einmal gesagt hat – durch das Wort und die Hingabe Jesu Christi „empfangen, was wir sind – der Leib Christi, und werden, was wir empfangen – der Leib Christi“.

Dann geht Fronleichnam weiter. Wenngleich stiller und bescheidener: Wir gehen mit Christus. Und Christus geht mit uns.

Fra' Georg Lengerke

Jun 08, 202308:08
An Gottes Leben teilnehmen – Dreifaltigkeitssonntag

An Gottes Leben teilnehmen – Dreifaltigkeitssonntag

Die sogenannte „Prärie“ ist eine Parklandschaft am französischen Fluss Gave im Wallfahrtsort Lourdes am Fuße der Pyrenäen. Gegenüber liegt die Grotte von Massabielle, von der das Mädchen Bernadette Soubirous 1858 berichtete, eine Dame von außergewöhnlicher Schönheit sei ihr dort begegnet, die sich später als die Gottesmutter Maria erwies.

Auf einer der Bänke auf der Prärie führe ich in der vergangenen Woche ein langes Gespräch mit A., einem Mann von vielleicht Mitte vierzig, über dessen Leben sich ein Buch schreiben ließe: Eine Kindheit als belächelter oder malträtierter Außenseiter, ein schulisches Martyrium, Gelegenheitsarbeiten, der Versuch, das Abitur zu machen und Theologie zu studieren. Mit 30 der erste Schlaganfall. Nach der Reha wird aus einem dreiwöchigen Asien-Urlaub ein siebenjähriger Aufenthalt, nach der Rückkehr ein zweiter Schlaganfall, seitdem sitzt er im Rollstuhl…

Er erzählt nüchtern von seinem Weg, von viel Leid und etwas Glück, von seiner Ferne und seiner Nähe zu Gott, von seiner Sehnsucht und von konkreten Misslichkeiten dieser Tage. Und er spricht gut von den Menschen – auch von denen, die ihm weh getan haben. An dieses Gespräch denke ich am heutigen Dreifaltigkeitssonntag.

In der Oration dieses Tages heißt es, Gott habe Sein Wort und Seinen Geist „in die Welt gesandt, um uns das Geheimnis des Göttlichen Lebens zu offenbaren“.

Diese Offenbarung ist mehr als eine Information zwecks Weitergabe. Sie ist eine Gabe, die das Leben derer, die sie annehmen, grundlegend verändern kann. Sie ist nicht nur Information, sondern Formation (Benedikt XVI.).

Was heißt das, ein Christ zu sein? Wenn ich zurückschaue, vertieft sich die Antwort von einer Lebensphase zur nächsten – wie übrigens auch im Jahreskreis der Liturgie.

Christsein heißt Annahme und Angenommenwerden, sagt mir das Weihnachtsfest. Gott wird Mensch, in dem der Vater den Sohn sendet, der sich mit unserem Leib und Leben verbindet – „in allem uns gleich außer der Sünde“ (IV. Hochgebet).

Christsein heißt Nachfolge, sagt der Alltag der Jünger Jesu bis heute. Dabei werden wir mit Ihm immer vertrauter und Seine Freunde werden und so Anteil an Seinem Leben, an Seinem Willen und an Seiner Liebe zu den Menschen bekommen.

Christsein heißt Leben mit dem Auferstandenen, heißt es an Ostern. Er lässt sich alles antun, was wir einander antun, um die Welt von innen her zu erlösen. Im Hass bleibt Er die personifizierte Liebe Gottes bis in den Tod - und führt die todverfallene Welt durch den Tod ins Leben.

Christsein heißt Sendung, haben wir an Pfingsten gefeiert. Das Volk Gottes wird in der Kraft, Vollmacht und Verstehbarkeit des Heiligen Geistes in die ganze Welt gesandt als ein Volk aus allen Völkern, das allen Menschen die Liebe Christi erweist und bezeugt.

Im Vergleich dazu ist der Dreifaltigkeitssonntag ein eher leises Fest. Im Gespräch mit A. auf der Prärie werde ich daran erinnert, dass Christsein auch bedeutet, sich hineinnehmen zu lassen in die dreifaltige Liebe, die in die Welt gekommen ist.

A. und ich sind zwei, die im Namen Jesu versammelt sind. Von denen sagt Jesus, Er sei unter ihnen gegenwärtig. A. ist mein Nächster, für den Christus gestorben ist und mit dem Er sich unwiderruflich und „auf Verderb und Gedeih“ (!) verbunden hat. Die Schrift sagt mir, dass ich diese Erkenntnis nicht aus mir habe, sondern durch den Heiligen Geist, der in mir wohnt und mich Christus und den Bruder erkennen und lieben lässt.

Gegenüber, am anderen Ufer des Gave, hat eine „schöne Dame“ einem Mädchen gesagt, dass sie die „unbefleckte Empfängnis“ sei, in der der Sohn Gottes ein Mensch geworden ist. Hier auf der Prärie sitzen zwei versehrte und von Gott gewürdigte Männer, denen der Heilige Geist die Gegenwart des Menschgewordenen im jeweils Anderen offenbart, damit wir miteinander den Weg finden zu Gott dem Vater, der der Ursprung, der Erhalter und das Ziel von allem ist.

Fra' Georg Lengerke

Jun 04, 202304:55
Eines Geistes sein. Predigt in St. Georg, München-Bogenhausen, Apg 2,1-11

Eines Geistes sein. Predigt in St. Georg, München-Bogenhausen, Apg 2,1-11

Seit einiger Zeit schaue ich in der Münchener U-Bahn nicht mehr aufs Handy. Stattdessen lese ich in einem kleinen Buch, mache mir Notizen oder schaue mich einfach um. Neulich traf sich dabei mein Blick mit dem einer jungen Frau, die das gleiche tat. Es war, als wären wir beiden die einzigen. Alle anderen waren von ihren kleinen Bildschirmen in Anspruch genommen. Sie lächelte und ich lächelte zurück, und für einen Augenblick waren wir eine kleine konspirative „Widerstandsgruppe“ inmitten der Weltvergessenen um uns herum. Wir kannten uns nicht, aber in diesem Punkt verstanden wir einander.
Das Pfingstfest handelt von tödlicher Sprachverwirrung und rettender Verständigung.
An Pfingsten wird die Geschichte der Stadt Babel erzählt, deren Bewohner einen Turm bis zu Gott bauen und wie Gott sein wollen und darüber die gemeinsame Sprache und die Fähigkeit, einander zu verstehen verlieren (Gen 11,1-9).
Und es wird von Jerusalem erzählt, wo am jüdischen Fest des Bundesschlusses 50 Tage nach dem Paschafest und der Auferstehung Jesu eine Kraft wie Feuer von oben kommt. Die ergreift die versammelten zwölf Beauftragten Jesu und lässt sie so von Gottes Taten und Wundern sprechen, dass die Menschen aller dort versammelten Sprachen sie verstehen können.
In einem Pfingsthymnus der Ostkirche wird heute gesungen:
„Als Er herabkam, die Sprachen zu verwirren,
schied der Höchste die Völker;
als Er des Feuers Zungen verteilte,
rief Er alle zur Einheit:
und einstimmig verherrlichen wir
den Allheiligen Geist!“
Ich muss in letzter Zeit oft an die Geschichte vom Verlust der gemeinsamen Sprache in Babel denken. Dass wir einander verstehen, wird selbst innerhalb einer gemeinsamen Sprache immer schwieriger. Auf der einen Seite gibt es eine immer größere sprachliche Sensibilität und das Bemühen um „sprachliche Gerechtigkeit“. Und das ist gut so. Auf der anderen Seite wachsen Misstrauen und Verdacht, weil ein Wort und seine Bedeutung zweierlei und nicht einfach identisch sind. Und weil die Deutung eines Wortes Wohlwollen braucht. „Der Mensch“ kann eine Frau sein. Und „die Person“ ein Mann. Wer heute noch so spricht, wie er gestern sprach, ist für manche bereits ein Menschenverächter.
Kann es sein, dass unser Turmbau zu Babel heute darin besteht, dass wir versuchen, die perfekte und gerechteste, berechenbarste und beherrschbarste aller Gesellschaften zu schaffen, die keines Gottes mehr bedarf? Und kann es sein, dass wir – gleich den Unglücklichen von Babel – dabei sind, die gemeinsame Sprache zu verlieren?
Pfingsten ist nicht ein autoritativer Aufruf zu Verständnis. An Pfingsten geht eine Kraft von Gott aus, die dem einen Verständlichkeit und dem anderen Verstehen schenkt. Eine Kraft, die die einen für das Wort und Wirken Gottes öffnet und die anderen befähigt, ihnen dieses zu offenbaren.
Pfingsten ist da, wo wir den Geist des Verstehens empfangen und ihn bei anderen finden. Dass wir jemanden verstehen, heißt nicht, dass wir mit ihm einverstanden sind. Aber wir erkennen, worum es ihm geht. Auch wenn er noch so Befremdliches für wahr hält, einfordert oder bewahren will. Auch nach Pfingsten ist noch einiges auszuhalten und zu ertragen. (Diese Alltagsmühe nennt man Toleranz.) Die Kraft auch dazu schenkt uns der Heilige Geist.
Denen, die den Geist Gottes empfangen, geht es – bei allen schmerzlichen Unterschieden auf dem Weg – im Letzten um Dasselbe: dass Gott bei den Menschen ankommt und wir Menschen miteinander bei Gott ankommen.
Ich denke an meine konspirativen Gefährten aus der U-Bahn. Wir schauen einander an, lächeln kurz, aber reden nicht. Und ich denke mir: In Dir und in mir wirkt derselbe Geist, dieselbe Kraft, dieselbe Gabe Gottes. Einmal werden wir uns wiedersehen vor Seinem Angesicht – und Gott und einander verstehen, spätestens dann. Das wird ein munteres, ein pfingstliches Zusammentreffen werden…
Fra' Georg Lengerke
May 28, 202307:49
Lohnendes Leiden 1 Petr 4,13-16

Lohnendes Leiden 1 Petr 4,13-16

Auf der Brust eines Olympioniken war neulich tätowiert: Pain is temporary, pride is forever – Schmerz geht vorbei, Stolz ist für immer. Das mit dem Stolz stimmt natürlich nicht, der vergeht nämlich auch. Aber ich verstehe, was der Sportler meint: Der Schmerz des Trainings geht vorbei, der Sieg bleibt. Woanders fand ich dann die Version: Pain is temporary, glory is forever – Leiden geht vorbei – Herrlichkeit bleibt.
Das neue Testament unterscheidet verschiedene Gründe für Leid. Es gibt Leiden, an dem wir unschuldig sind. Und es gibt Leiden, an dem wir schuld sind. Dabei wird nirgends gesagt, das Leiden selbst sei gut. Aber die Gründe, weshalb Menschen leiden, die können moralisch neutral oder schlecht oder gut sein.
Von den guten Gründen zu leiden, vom Leiden, das sich lohnt, sprach vor Jesus übrigens auch schon Sokrates, als er lehrte, es sei besser Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.

Wenn jemand leidet, sagt die heutige Lesung aus dem Ersten Petrusbrief dann „soll es nicht deswegen sein, weil er ein Mörder oder ein Dieb ist, weil er Böses tut oder sich in fremde Angelegenheiten einmischt“. Leiden, an dem wir selbst schuld sind, ist nicht nur leidvoll, sondern auch noch peinlich und beschämend.
Aber es gibt eben auch unverschuldetes Leiden und ein Leiden, dem sich jemand um eines Gutes willen stellt. Leiden, das sich lohnt. Zum Beispiel da, wo jemand leidet, weil er zu Christus gehört. Entweder deshalb, weil er sich ausdrücklich zu Christus bekennt und aufgrund dieser Identifikation geschnitten, verfolgt, eingesperrt oder misshandelt wird. Oder deshalb, weil er – auch ohne Christ zu sein – um eines Gutes willen leidet. Zum Beispiel, wo er gegen Widerstände bei der Wahrheit oder in der Liebe geblieben ist – und also verborgen zu Christus gehört.
Wo immer ein Mensch leidet und aus welchen Gründen auch immer (selbst dann, wenn er selbst schuld an seinem Leid ist), dort leidet Christus mit diesem Menschen. Wo aber Menschen um Christi willen leiden, dort geschieht auch das genau Umgekehrte: dort leiden sie mit Christus.
„Freut euch, dass ihr Anteil an den Leiden Christi habt“, sagt der Erste Petrusbrief. Er sagt nicht: Freut euch am Leiden. Er sagt: Wenn ihr Anteil an den Leiden Christi habt – also wenn Ihr mit Christus leidet – dann ist das Leiden an sich noch immer nichts Gutes. Aber es ist ein Anzeichen dafür, dass Ihr in seiner Nähe seid und in Gemeinschaft mit ihm steht – auch und gerade in diesem Augenblick der Bedrängnis. Der Preis, den Ihr zahlt, ist es wert. Es ist Leiden, das sich lohnt.
Ich habe mich gefragt, warum diese Lesung ausgerechnet zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten gelesen wird. Es ist ja doch die Zeit, in der wir – wie Maria und die Apostel – das Kommen des Heiligen Geistes erbitten und erwarten. Und den verbinden die meisten mit Freude, Kraft und Lebendigkeit, mit einer Dynamik neuer Mitteilungs- und Begeisterungsfähigkeit. Und in der Tat, alles das gehört zum Wirken des Heiligen Geistes dazu.
Aber zu diesem Wirken des Heiligen Geistes gehört eben offenbar auch, dass Menschen sich trauen und aushalten, „wegen des Namens Christi beschimpft“ zu werden. In dem Fall, sagt unsere Lesung, „seid ihr seligzupreisen; denn der Geist der Herrlichkeit, der Geist Gottes, ruht auf euch“. Wer um den Geist bittet, der zum Zeugnis befähigt, muss sich auch darauf einstellen, dass er um dieses Zeugnisses willen leiden muss.
Beim Leiden für einen Menschen, für die Liebe und für den Gott, der selbst die Liebe ist, ist es so ähnlich beim Sport: Pain is temporary, glory is forever. Das Leiden lohnt sich, und es geht vorbei – die Herrlichkeit bleibt.
Fra' Georg Lengerke
May 21, 202304:28
Ungefragt? 1 Petr 3,15-18

Ungefragt? 1 Petr 3,15-18

In der Bibliothek einer Hochschule, in der ich studierte, gab es einen, der hatte an seinen Schnürsenkel ein kleines Glöckchen gebunden. Bei jedem Schritt klingelte es. In der Stille der Bibliothek war das umso störender. Und das war offenbar beabsichtigt.

Als ich den jungen Mann ansprach, meinte er, er „läute für den Frieden“. Ich sagte ihm, dass er genau den hier gerade massiv gefährde. Darauf zitierte er die heutige Lesung aus dem Ersten Petrusbrief: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt.“ Worauf ich ihm sagte, dass die Rechenschaft, die ihm die Studenten von ihrer Hoffnung gleich geben würden, möglicherweise nicht mit Rede und Antwort getan sei, sondern zu seiner Entfernung führte.

Ich war und bin mir sicher, dass Petrus das nicht gemeint hat: Dass die Christen den Leuten mit kindischen Provokationen so lange auf die Nerven gehen sollten, bis die danach fragen, ob die Christen eigentlich noch ganz bei Trost seien.

Von Paul Claudel stammt das Wort, wir Christen sollten nur reden, wenn wir gefragt würden, aber so leben, dass wir gefragt werden. Daran ist richtig, dass Christen nicht irrelevante Antworten auf ungestellte Fragen geben sollen. Und sicher werden Menschen besser durch einen bestimmten Lebensstil zum Nachfragen provoziert, als durch steile Thesen oder irgendeine Besserwisserei.

Aber es gibt auch Sachverhalte, wo ungefragt zu reden ist. Nämlich überall dort, wo die Liebe nicht schweigen darf, und von dem, wovon die Liebe nicht schweigen darf. Bei Ungerechtigkeit, Unangemessenheit oder Unwahrheit, wo es um die Würde des Menschen oder die Bewahrung der Schöpfung geht, und dort, wo das Heilige in den Dreck gezogen wird.

Ich habe allerdings auch immer häufiger den Eindruck, dass viele Menschen der Glaube der Christen schlicht nicht mehr interessiert. Sei es, weil sie nichts mehr von den Christen oder der Kirche erwarten. Sei es, weil die dingliche Welt, das Sichtbare, Messbare und angeblich Machbare in ihrem Leben derart bestimmend geworden ist, dass die Transzendenz, also die Frage nach dem Unsichtbaren über das unmittelbar Vorhandene hinaus, einfach keine Option mehr ist. So dass viele Menschen es angesichts der Christen mit dem Münchner Karl Valentin halten: „Net amoi ignoriern“.

Es könnte sein, dass das Desinteresse der Menschen am Leben und Glauben der Christen eines Tages wiederum umschlägt. Für die von Gott Berührten in ein neues Fragen nach Ihm. Für die vom Leben und Glauben der Christen Gestörten in Ablehnung oder Hass.

Vielleicht wird man das Wort von Claudel eines Tages dann wieder so lesen, wie es zu Verfolgungszeiten zu lesen ist: Dass wir die Wahrheit sagen sollen, wenn wir verhört werden, und so leben, dass wir verhört werden.

Aber bevor es so weit ist, scheint mir noch etwas anderes wichtig zu sein: Wir sollten nicht bloß warten, bis wir nach unserer Hoffnung gefragt werden. Wir sollten vielmehr auch ernst damit machen, dass wir selbst ja vorher schon von dem gefragt wurden, der der Grund unserer Hoffnung ist und auf den wir unsere Hoffnung gesetzt haben. Gott antwortet dem Menschen nicht nur. Zuvor fragt Gott nach dem Menschen: „Wo bist du?“ (Genesis 3,9) „Was willst du?“ (Markus 10,51) „Was suchst du?“ (vgl. Johannes 1,38)

Gott fragt nicht nur nach denen, die schon an ihn glauben, sondern nach jedem Menschen. Also sollten auch die von Gott Gefragten mit Ihm und wie Er nach den Menschen fragen. Nach ihrer Hoffnung und ihrer Not. Nach ihrer Freude und ihrem Schmerz. Auch dann, wenn wir selbst noch nicht alle Antworten auf Seine Fragen haben.

Dann stellen wir vielleicht fest, dass auch einige von ihnen eine Antwort haben auf die Frage nach der Hoffnung –

die nach uns Menschen fragt.

Fra' Georg Lengerke

May 14, 202304:37
Wo der Friede siegt Joh 14,1-12

Wo der Friede siegt Joh 14,1-12

Vor kurzem haben wir einen Onkel von mir begraben, der ein sehr bewegtes Leben hatte. Als eineinhalbjähriges Baby überlebte er als einziger seiner mitflüchtenden Verwandten die Bombardierung Dresdens und wuchs als Pflegekind einer fremden Familie in Bitterfeld auf. Als 22-Jähriger wurde er von seiner Geburtsfamilie wiedergefunden und übersiedelte in die Bundesrepublik.

Bei der Beerdigung haben wir das heutige Evangelium gelesen: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren“, sagt Jesus vor seinem Abschied zu den Jüngern und spricht von den „vielen Wohnungen“ im Hause des Vaters. Dorthin geht er uns voraus, sagt er, um einen Platz für uns vorzubereiten und wiederzukommen, um uns zu sich zu holen, „damit auch ihr dort seid, wo ich bin“.

Der Onkel wusste, was es bedeutet, ein Herz zu haben, das verwirrt war, weil es hier kein bleibendes Zuhause hatte und sich dennoch einrichten wollte oder sollte. Er hatte zwar ein Zuhause, in dem er aufwuchs, aber aus dem er nicht kam, und ein Zuhause, aus dem er zwar kam, aber das er nicht kannte und das später nie mehr ganz seines werden sollte.

„Wir haben hier kein bleibende Stadt“, heißt es im Hebräerbrief, „aber die künftige suchen wir.“ (Hebr 13,14). Bei der Beerdigung und angesichts des Lebens des Onkels habe ich daran gedacht, dass das von allen Menschen gilt: Wir sind auf gewisse Weise alle Pflegekinder und Kinder auf Besuch und werden erinnert (und oft genug auch verwirrt), weil wir wissen, dass wir nicht bleiben können.

Vergangene Woche war ich für die Wahl eines neuen Ordensoberen meiner Gemeinschaft in Rom. Das war ein wichtiger Schritt in unserer Geschichte. Doch je feierlicher wir ihn begingen, umso mehr dachte ich an die Vielen, die auch in der Kirche und ihren Gemeinschaften spüren, dass deren irdische Gestalt kein bleibendes Zuhause ist. Dort nicht, wo sie fehlerhaft, pompös oder banal daherkommt. Und selbst dort nicht, wo sie ihren Auftrag erfüllt und ihrer Berufung folgt.

Vom Haus, das die Kirche ist, spricht der Hebräerbrief heute. Es ist nicht aus Steinen und nicht von Menschenhand gebaut. Im Gegenteil: Sein Grund- und Schlussstein ist einer, den die menschlichen Bauherren verworfen haben: Jesus Christus. Zu diesem „geistigen Haus“, sagt der Hebräerbrief, sollen wir uns erbauen lassen als „lebendige Steine“ und als „priesterliche“ Menschen, die dienend, betend und liebend die Welt zu Gott nach Hause bringen.

Wir sind auf einem Weg, den wir schon kennen, sagt Jesus. Und als Thomas irritiert nachfragt, was das denn bitte für ein Weg sein solle, den er eben nicht kenne, antwortet Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Jesus Christus ist der Weg, auf dem schon hier die Wahrheit erkannt und das Leben gewonnen wird, das den Tod besiegt hat.

Jesus Christus ist der Heim-Weg ins wahre Leben für die, die ernst damit machen, dass sie hier keine Bleibe haben. Zu diesem Heimweg gehören die Prachtstraßen und die Durststrecken, die Höhenwege und die Umwege, die Fluchten, Verfolgungen und Verwerfungen. Und: Die Wege mit Christus führen alle nach Hause.

Übrigens gab es ein wunderbares Hoffnungszeichen für das verwirrte Herz des unbekannte kleinen Jungen, der da schreiend zwischen den unzähligen Leichen im Dresdener Hauptbahnhof gefunden wurde.

Irgendein Verwaltungsbeamter der Sowjetischen Besatzungszone gab dem von seiner Pflegemutter „Peter“ genannten Jungen den Nachnamen „Friednot“. Friede tut not, kann das bedeuten, oder dass wir lebensbedrohliche Friednot haben, wie Menschen Wassernot oder Atemnot haben.

Als der junge Mann zu seinen Eltern kam, die den Krieg überlebt hatten, erfuhr er, dass er auf den Namen „Siegfried“ getauft worden war. Der Friede wird siegen! Das sollte in aller Friednot seines irdisches Leben ein Versprechen bleiben. Doch im Haus des Vaters, in dem uns ein Platz bereitet ist, wird sich dieses Versprechen für den Onkel erfüllen.

Fra' Georg Lengerke

May 07, 202304:44
Stimmt die Stimme? Joh 10,1-10

Stimmt die Stimme? Joh 10,1-10

Eine der Märchen-Schallplatten, die wir als Kinder hörten, war „Rotkäppchen“ von den Gebrüdern Grimm. Ein Mädchen wird von seiner Mutter mit allerlei Köstlichkeiten zu seiner Großmutter in den Wald geschickt, wohin ihm der böse Wolf durch einen Trick zuvorgekommen war. Der hatte die Großmutter verspeist und sich an ihrer Stelle ins Bett gelegt. Dort angekommen fragt Rotkäppchen verwundert nach der Bedeutung der großen Ohren, Augen und Hände der vermeintlichen Großmutter. Als sie nach dem großen Mund fragt, kommt die gruselige Antwort: „Dass ich dich besser fressen kann!“, was der Wolf dann auch ohne viel Federlesens tut.

Während sich das Rotkäppchen über die ungroßmütterlich großen Körperteile des verkleideten Wolfes wunderte, wunderte ich mich jedes Mal über etwas anderes: nämlich über die Stimme. Der Erzähler mit der Wolfsstimme fing dann großartig an zu fisteln – halt wie ein Wolf, der auf Großmutter macht. Aber es war nie und nimmer die Stimme der Großmutter. Wie bloß konnte Rotkäppchen das nicht merken?

Im Evangelium spricht Jesus von der Stimme des guten Hirten, die den Schafen vertraut ist, aufgrund derer sie ihn erkennen, ihm trauen und ihm folgen. Davon unterscheidet sich die Stimme des Fremden, dem die Schafe nicht folgen, weil sie die Gefahr wittern und sich in Sicherheit bringen.

Mit der Stimme hat es eine besondere Bewandtnis. Sie sagt uns vor allen Worten, wer spricht. Schon ungefähr in der 17. Schwangerschaftswoche beginnt das Kind im Mutterleib die Stimme der Mutter zu hören. Keine Stimme ist uns zunächst vertrauter. Später gibt es vertraute Stimmen anderer geliebter Menschen. Stimmen, die uns gemeint und erreicht, gerufen und angesprochen, uns getröstet oder uns Lebensentscheidendes gesagt haben. Es gibt Stimmen, denen unser Urvertrauen gilt und denen wir uns anvertrauen.

In der Heiligen Schrift hat die Stimme eine besondere Bedeutung. Die großen Glaubenszeugen des Alten Testamentes werden dafür gelobt, auf „die Stimme Gottes“ gehört zu haben. Nicht bloß auf einzelne Worte, sondern auf Seine Stimme, was auch immer sie gesagt hat. Jene Ur-Stimme, von der uns Menschen gesagt wird, dass wir uns ihr unbedingt und vorbehaltslos anvertrauen können.

Wie mag das mit der Stimme Jesu gewesen sein? Es war eine menschliche Stimme mit einer bestimmten Tonlage und einem bestimmten Klang. Aber in ihr wurde zugleich die Stimme Gottes menschlich vernehmbar, auch über die unmittelbaren Worte Jesu hinaus. Jesus sagt uns, was er von Gott dem Vater hört. Aber er spricht auch in der Art und Weise, wie Gott der Vater spricht.

Was bedeutet es nun heute, die Stimme des Guten Hirten zu kennen? Den Menschen, die Jesus gehört haben, sagte seine Stimme, wer da spricht, noch vor jedem Wort. Diese Stimme war ihnen vertraut, sie hatte sie erkannt und gemeint und zu sich gerufen.

Seit der Himmelfahrt Christi jedoch hören wir die irdische Stimme Jesu nicht mehr unmittelbar. Sie ist nur zu einer bestimmen Zeit der Geschichte an einem bestimmen Ort zu hören gewesen. Dafür schenkt uns der Auferstandene immer und überall Sein Wort in der Heiligen Schrift und ist gegenwärtig im Zeugnis, das die Kirche von ihm gibt.

Uns Christen sollte es darum gehen, mit dem Wort und Wesen Jesu, seiner Weise zu denken, zu reden und zu handeln so vertraut zu werden, dass wir nicht nur sein ausdrückliches Wort in der Schrift kennen, sondern auch mit seiner „Stimme“ vertraut werden – also mit seiner Art, mit dem, was ihm gemäß ist, nach ihm klingt, von ihm erzählt.

So werden wir diese Stimme heraushören und unterscheiden lernen in all den Stimmen und Stimmungen, die uns erreichen. Und dann werden wir auch nicht (wie Rotkäppchen) verschlungen werden von dem, was nur so tut, als wäre es Gott.

(Das Rotkäppchen übrigens wird später im Märchen ganz unzerkaut und unverdaut samt Großmutter gerettet. Das freilich wäre ein anderer BetDenkzettel.)

Fra' Georg Lengerke

Apr 30, 202304:36
Rückfall oder Vorsprung Joh 21,1-14

Rückfall oder Vorsprung Joh 21,1-14

Als Kind und Jugendlichem standen mir Sonntagnachmittage und -abende häufig bevor. Vor allem nach Ferien oder einem schönen Erlebnis. Sonntagnachmittags überkamen mich der Kater und die Sorge, wie der Alltag in solcher Traurigkeit nur zu schaffen sei.

Zurück in den Alltag gehen auch die Jünger nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Petrus beschließt: „Ich gehe fischen.“ Er geht in das zurück, was er kann und worin er sich auskennt. Andere Apostel schließen sich an.

Dieses „Zurück in den Alltag“ kann zweierlei sein: Es kann ein Hinweis darauf sein, dass Christsein bedeutet, in der unaufgeregten Normalität des Alltags im Glauben an den auferstandenen Herrn und in Gemeinschaft mit ihm zu leben.

Aber bei Petrus ist später vom Fischerhandwerk nicht mehr die Rede. Er wird reisen und das erzählen und bezeugen, was die Jünger mit Jesus erlebt haben und was damit Neues von Gott in die Welt gekommen ist.

„Ich gehe fischen“ – kann deshalb auch ein Rückzug in das alte, ehemalige, eigentlich zurückgelassene Leben sein. Eine Art Regression auf vertrautes Terrain, nach dem scheinbar gescheiterten Versuch, ein neues Leben zu beginnen.

Ich kenne diesen resignativen Rückzug auf das Vertraute und Gewohnte. Ich kenne ihn bei mir selbst, bei der Kirche und auch bei meiner Gemeinschaft.

Uns Maltesern geht es ähnlich wie anderen Gemeinschaften in der Kirche. Wir haben vor Jahren einen Prozess der „geistlichen und moralischen Erneuerung“ begonnen. Wir merken, dass eine solche Erneuerung nicht so einfach ist. Sie verlangt Ungewohntes von uns: einerseits die Anknüpfung an Ursprüngliches, andererseits manches Neue. Es gibt Streit um sie.

Das ist häufig der Moment des Rückzugs aufs „Fischen“, auf das, worin die meisten von uns sich gut auskennen: also auf Organisation und Wirtschaftlichkeit, auf den Ausbau unserer Dienste und unserer Relevanz. Wir haben Schönes oder Schmerzliches erlebt, wissen nicht, wie es weitergeht, und sind wieder Fischer, die fischen.

Wo ich in diese Regression zurückfalle, wird mein Leben klein und traurig. Wo wir uns auf das reduzieren, was wir schon immer gut zu können meinten, da wird das Leben der Kirche geschrumpft. Es wird geschrumpft auf unser eigenes oder das Format derjenigen, die zwar die Aufsicht, aber keine Aussicht, die zwar das Sagen, aber nichts zum Sagen haben.

Im Evangelium geschieht der Einbruch in diesen Alltag, als der Auferstandene am Ufer steht. Es beginnt ein Gespräch mit dem Unerkannten. Er lässt die Jünger nach dem erfolglosen Fischzug der Nacht noch einmal das Netz auswerfen. Es ist zum Bersten voll.

Aber nicht Petrus sondern Johannes erkennt Jesus zuerst: „Es ist der Herr!“

Und dann geschieht das Entscheidende: Petrus springt. Für mich ist das eines der schönsten Bilder des Glaubens: im Vertrauen auf den Auferstandenen mich Ihm entgegenzuwerfen, den Sprung zu wagen in die Gelegenheiten bei Ihm, und mit Ihm bei den Anderen zu sein – hinein in die unsterbliche Gemeinschaft mit ihm.

Solches Springen ist gut gegen die traurige Schrumpfung des Lebens auf das von mir für möglich Gehaltene.

Es ist Ostern. Es ist Zeit, der Regression und Resignation zu widerstehen: indem ich wie die Jünger im Boot mit dem Auferstandenen spreche – auch wenn ich Ihn noch nicht ganz erkannt habe; indem ich tue, was Er sagt – auch wenn ich noch nicht ganz verstanden habe, was das soll; indem ich meiner Schwester oder meinem Bruder glaube, dass der Unbekannte der Herr ist – auch wenn ich Ihn lieber selbst zuerst erkannt hätte;

und schließlich indem ich springe – ohne mich um Boot und Beute, Netze und Leute zu sorgen. Die kommen schon nach.

Und dann wird der Sonntagabend auch nicht mehr traurig sein.

Fra' Georg Lengerke


Apr 23, 202304:30
Beziehungsweise Christus Joh 20,19-31

Beziehungsweise Christus Joh 20,19-31

Die Auferstehung Jesu ist für einige Jünger eine schmerzhafte Erfahrung: Die einen begegnen ihm, die anderen nicht. Zehn Jüngern zeigt er sich am Ostermorgen – und einem nicht. Thomas reagiert fast trotzig: Wenn ich ihn nicht sehen und berühren kann wie Ihr, glaube ich nicht.

Dass der Auferstandene sich nach Ostern den einen zeigt und den anderen nicht, hat offenbar Methode. Petrus erzählt in seiner Pfingstpredigt (die am Ostermorgen gelesen wurde) Jesus habe sich nach seiner Auferstehung nicht allen gezeigt, sondern nur "den von Gott vorherbestimmten Zeugen" (Apg 10,41).

Warum zeigt er sich nicht allen? Der Auferstandene erscheint zu Beginn denen, die sich zuvor für ihn entschieden haben. Seine Erscheinungen knüpfen an das an, was sie vorher mit ihm erlebt haben. Er erscheint nicht, um Fremde zu überwältigen. Sondern der Auferstandene will den Weg mit den Zeugen seines irdischen Lebens auf eine verwandelte Weise fortsetzen – und zwar um aller anderen Menschen willen.

Die Auferstehung Jesu Christi verändert nicht bloß die Beziehung seiner Jünger zu ihm, sondern auch deren Beziehung zueinander und zu den anderen Menschen.

Der Auferstandene kommt in die ängstliche Abschottung seiner Jünger, um diese aufzubrechen und seine Zeugen zu bevollmächtigen und zu senden. Schon Im Obergemach durch die Anhauchung und die Gabe des Heiligen Geistes, Sünden vergeben zu können. Und an Pfingsten dann in der universalen Sendung zu allen Menschen.

Und damit verändern sich unsere Beziehungen fundamental: Sie werden gewürdigt, zu einer Weise der Offenbarung Jesu Christi zu werden.

Denn nach Pfingsten werden es die Worte, die Taten und das Leben der von Jesus erreichten Menschen sein, die anderen Menschen von Gott und Jesus Christus erzählen. Das ist im Vergleich zum irdischen Erscheinen Jesu Christi nicht bloß eine Notlösung oder eine Offenbarung zweiter Klasse. Im Gegenteil: Gerade so, gerade in diesen Beziehungen teilt er selbst sich mit.

Ich bin überzeugt, dass Christus in der Welt auf unendlich viele unbegreifliche Weisen gegenwärtig ist und wirkt. Aber der Königsweg der Offenbarung ist das einfache und bescheidene, vollmächtige und starke Zeugnis des eines Menschen für den anderen, durch das Jesus selbst sich mitteilt.

Deshalb besteht der größte Skandal der Kirche unserer Zeit darin, dass das Leben, Reden und Tun der Christen und der Kirche vielfach gar nicht mehr von Jesus Christus erzählt. Wir haben uns mancherorts in der Verleugnung Jesu geradezu eingerichtet. Und die Sünden in der Kirche sprechen Bände davon.

Es ist von Thomas nicht wenig verlangt, der erste zu sein, der allein aufgrund des Wortes der anderen Jünger glauben soll. Aber Jesus bestätigt ihm das Wort der Apostel und der beginnenden Kirche, als Thomas ihn sieht, ihn berührt und ihm glaubt.

Wenn mein Leben sich vollendet, werde auch ich Jesus sehen. Und ich vertraue darauf, dass er auch mir dann bestätigen wird, was ich den Aposteln und der Kirche und meinen Brüdern und Schwestern bis heute geglaubt habe: dass Jesus von den Toten auferstanden und als Auferstandener unter uns gegenwärtig ist.

Und ehrlich, auf dieses Sehen freue ich mich.

Fra' Georg Lengerke


Apr 16, 202304:02
Jesus geht zu Oma (Morgenandacht DLF vom 8. April 2023, Karsamstag)

Jesus geht zu Oma (Morgenandacht DLF vom 8. April 2023, Karsamstag)

Heute ist der Karsamstag. Es ist für die Christen der stillste Tag im Jahr. Zumindest bis in den Abend hinein findet kein Gottesdienst statt. Die ganze Kirche gedenkt heute der Grabesruhe Jesu und erwartet seine Auferstehung. Dann ist Ostern.

Das Fest verbringe ich in der Malteserkommende in Ehreshoven bei Köln. Ungefähr 60 Gäste, dazu Freunde und Nachbarn, feiern hier zusammen das Osterfest. Darunter auch viele Familien mit Kindern.

Wie jedes Jahr vollziehen wir heute Vormittag nochmal die Grablegung Jesu nach. Dazu haben wir in der Kirche vor den Altar eine Trage gestellt. Zusammen mit den Kindern lege ich alle Gegenstände, die uns an das Leiden und Sterben Jesu erinnern, auf diese Trage. Ein weißes Gewand, eine Dornenkrone, drei schwere Nägel, ein Schwamm und ein Speer und fünf rote Glassteinchen, die an die Wunden Jesu erinnern. Dabei erzählen die Kinder noch einmal die Leidensgeschichte nach, die wir am gestrigen Karfreitag erzählt und gefeiert haben.

Zum Schluss nehmen wir die rote Stola vom Kreuz, die dort seit gestern hängt. Und wir legen sie so auf die Trage, als läge dort einer, der sie trägt. Die Kinder vollziehen das immer mit großer Zärtlichkeit und Feierlichkeit.

Wenn alles auf der Trage liegt, tragen sechs Kinder – zwei vorne, zwei hinten und zwei in der Mitte – die Trage mit der kleinen Anordnung der Erinnerungsstücke vom Hof und hinüber in einen benachbarten Schlossgarten. Der vielleicht 200 Meter lange Weg ist immer sehr andächtig. Wir singen einige Lieder, die sonst auch bei Beerdigungen gesungen werden, wie: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh‘“ oder „Das Weizenkorn muss sterben, sonst bleibt es ja allein“.

Am Ende des Weges ist ein alter Eiskeller, der in eine Felswand gehauen ist. Früher legte man dort im Winter große Eisstücke hinein, die bis zum Herbst dort die Kühlung von Speisen ermöglichten. Davor stellen wir die Trage ab und beten für die Lebenden, die Sterbenden und die Verstorbenen. Dann schieben wir die Trage mit allem, was uns an Jesus erinnert, in die Felsnische. Am Schluss rollen zwei der Männer einen schweren Mühlstein vor unser kleines Eiskeller-Grab.

Immer wieder kommt es vor, dass Teilnehmer bei der Grablegung sehr bewegt sind, weil sie an ihre verstorbenen Nächsten denken. Ich erinnere mich, dass in einem Jahr mich sehr bewegt war. Wir hatten die Trage gerade vor dem Eiskeller abgestellt. Ein dreijähriges Mädchen, deren Großmutter kürzlich gestorben war, schaute zu mir herauf und sagte zu mir: „Jesus geht zu Oma.“

Damit hatte das Kind in vier Worten alles gesagt, was diesen stillen Tag so groß und heilig macht. Am Karsamstag feiert die Kirche schweigend, was sie im Glaubensbekenntnis mit dem Satz verkündet: Jesus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“.

Auch heute, wenn wir nachher wieder mit den Kindern in unserer kleinen Prozession zum Eiskeller ziehen, werde ich an diese vier Worte denken: „Jesus geht zu Oma“. Und ich werde diesen Satz still immer wieder sagen – von meinen Großeltern und Vorfahren, von meinem vor der Geburt gestorbenen Geschwisterchen, von gestorbenen Freunden und Verwandten, von den von mir Beerdigten, von den im Krieg und im Erdbeben Getöteten und den mitten unter uns ums Leben Gekommenen.

Gott steigt als Mensch in den Tod hinab, damit die Toten ins Leben kommen.

Morgen früh werden wir uns vor Sonnenaufgang hier vor der Graböffnung an einem kleinen Feuer wieder treffen. Der Stein wird beiseite gerollt sein und das Grab ist leer, und wir werden hören und feiern, dass einer zu den Toten und zu uns Lebenden das neue Leben getragen hat. Ein Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.

Fra' Georg Lengerke

Apr 08, 202304:19
Der Gekreuzigte, die Opfer und die Täter (Karfreitag, Jes 52,13-53,12)

Der Gekreuzigte, die Opfer und die Täter (Karfreitag, Jes 52,13-53,12)

Eine Hospizhelferin erzählte neulich von einer Frau, die sie auf ihrem Sterbeweg begleitete. Die alte Dame hatte viel Schweres erlebt, aber nicht viel über ihren Glauben gesagt. Bei einem ihrer letzten Besuche habe die Patientin schon kaum mehr etwas sagen können. Kurz bevor die Besucherin ging, drehte sie den Kopf zur Seite, wo ein einfaches Kreuz mit dem Gekreuzigten hing. Sie schaute ihn an und sagte leise: „So lieb!“

Bald darauf starb sie. Sie hatte eine Nähe und Liebe des Gekreuzigten wahrgenommen, an die ich seitdem oft denken muss. Was brächte mich dazu, angesichts des Gekreuzigten zu sagen: So lieb!?

Das Erste ist: Jesus erleidet das Leiden, das ich erleide. Jeden Freitagnachmittag um 15 Uhr läutet mein Mobiltelefon. Auf dem Display steht: „Du stirbst meinen Tod.“ Jesus hat sich in seinem Leben, Leiden und Sterben mit mir verbunden. „Er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, sagt der Prophet Jesaja (Jes 53,4). Er trägt, was ich trage, ihn drückt, was mich drückt, er erleidet, was ich erleide, und er stirbt meinen Tod. Damit ich mit ihm lebe. Schon hier und jetzt. Und einmal jenseits des Todes.

Das Zweite ist: Das zuerst Gesagte gilt auch von meinen Nächsten. Und die haben auch an mir gelitten. Jesus erleidet mit ihnen das Leiden, das ich verursache. Was ich ihnen tue, empfindet auch er. Nicht nur das monströse Böse aus der Presse. Sondern jede Unaufrichtigkeit, jedes böse Wort, jeden bösen Gedanken.

Der Gekreuzigte konfrontiert mich mit meinem Unrecht. Er vertuscht nichts und schont mich nicht. Aber zugleich bleibt er der Liebende, der meine Reue, meine Buße und meine Versöhnung und mich aufs Neue bei sich haben will.

Und das Dritte schließlich: Jesus erleidet, was ich mir selbst antue. Was ich anderen tue, geht auch an meiner Seele ja nicht spurlos vorüber. Was, wenn ich alles das auch selbst erleiden würde, was ich je anderen Menschen „Gutes unterlassen und Böses getan habe, in Gedanken, Worten und Werken“? Ich wäre dem Gekreuzigten- oder besser: er wäre mir sehr ähnlich. „Er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt.“ sagt Jesaja (53,5)

Es ist bei dem Schmerz, der gerade durch die Kirche geht, unendlich schwer geworden, anzunehmen, dass Jesus gekommen ist, um die Sünder zu retten. Solche wie mich. Und solche, die schlimmeres getan haben.

Vielleicht tun wir uns damit auch deshalb so schwer, weil in der Kirche falsche Rücksichten, die Aufrechterhaltung des Scheins und der Schutz der Institution so viel Unheil angerichtet haben. Wo von Erlösung und Versöhnung gesprochen wird, wächst die Angst und der Verdacht, Täter könnten wieder gedeckt, verschont und verschoben werden und so einfach ungeschoren davonkommen.

Und das darf nicht sein. Der Gerechtigkeit muss genüge getan, jeder Täter bestraft und an Wiederholungen wirksam gehindert werden.

In Therapie und Seelsorge geht es zugleich darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Opfer wurden. Und einen Weg aus der Opferrolle zu finden. Und es geht darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Täter wurden. Und einen Weg aus der Schuld und aus der Sünde zu finden.

Heute feiert die Kirche, dass Jesus, der schuldlose Mensch, genau dahin geht: an die Stelle des Opfers und an die Stelle des Täters. Damit wir mit ihm wieder zueinander und zu unserem wahren Selbst finden.

Deshalb dürfen wir uns selbst oder einander nicht an unserem Opfersein oder Tätersein festhalten. Sonst erreicht uns nicht, was Jesus am Karfreitag tut: Dass er sich dorthin begibt, wo wir und alle Opfer leiden, um unserer Heilung willen. Und dass er sich dorthin begibt, wohin wir und alle Täter sich gebracht haben, um unserer Verzeihung willen.

Wo wir das annehmen, da mag auch unser letztes Bekenntnis sein: So lieb!

Fra' Georg Lengerke

Apr 07, 202305:16
Zeigt her eure Füße (Morgenandacht DLF vom 6. April 2023, Gründonnerstag)

Zeigt her eure Füße (Morgenandacht DLF vom 6. April 2023, Gründonnerstag)

Heute ist der Gründonnerstag. Die Kirche gedenkt heute des letzten Abendmahls, das Jesus vor seiner Kreuzigung mit den Jüngern feierte. Während dieses Abendmahls kommt es zu einer weiteren Begebenheit von großer Intensität: Jesus steht auf und wäscht seinen Jüngern einzeln die Füße.

Diese Szene wird häufig bloß auf ihre moralische Botschaft reduziert: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“, sagt Jesus danach. Aber damit wird das Entscheidende vergessen: Bevor die Jünger einander die Füße waschen, sollen sie sich die Füße waschen lassen. Und das löst erheblichen Widerstand aus: „Niemals sollst du mir die Füße waschen!“, widerspricht Petrus dem Ansinnen Jesu.

Es geht in dieser Szene um mehr, als nur um eine Lehrstunde in Nächstenliebe. „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“, erwidert Jesus dem widerwilligen Petrus. Hier geht es um den Kern des Christseins. Der besteht nämlich nicht in der Verwirklichung bestimmter Werte. – Die meisten sogenannten „christlichen Werte“ wie die Nächstenliebe sind gar nicht spezifisch christlich, sondern allgemein anerkannt. – Nein, wer die Zuwendung Jesu annimmt, bekommt Anteil am Leben Jesu. An seiner Weise zu leben und zu lieben, an seiner Weise, die Menschen zu sehen, von ihnen zu denken und zu ihnen zu sprechen, an seiner Weise, mit Gott und mit der Welt verbunden zu sein. Wie kann man sich das vorstellen? Ein Neffe von mir hat kürzlich eine Erfahrung gemacht, von der ich glaube, dass Sie eine Antwort auf diese Frage geben kann.

Nach einem freiwilligen sozialen Jahr im Nahen Osten hat er zwischen Frühjahr und Herbst nur ausnahmsweise Schuhe getragen. In Wärme und Kälte, drinnen und draußen, tags und nachts, wandernd und ruhend, in der Regel war der junge Mann – barfuß.

Ich habe ihn nach den Gründen gefragt. Drei hat er mir genannt:

Der erste war, dass die jungen Leute während dieses Jahres Grenzen austesten und sie gegebenenfalls überwinden wollten. Zum Teil waren es Albernheiten, wie: Wie viele Brotfladen passen in einen Mund? Wie oft muss man die Wäsche wechseln, bevor die Freunde Anstoß nehmen? Wie ist es, einen Tag lang nichts zu sehen oder nichts zu hören? Wie lebt es sich ohne Haare auf dem Kopf? Oder eben: Wie weit kommt man ohne Schuhe? Irgendwann wurde die Wäsche dann wieder regelmäßig gewechselt, die Haare sind bald wieder nachgewachsen – nur die Füße blieben nackt.

Der zweite Grund hatte mit dem Gefühl von Freiheit und einer neuen Wahrnehmung der Umgebung zu tun. Er schrieb mir:

„Es hatte was von dem Freiheitsgefühl eines Kindes, das sich wehrt, wenn die Mutter ihm die Schuhe anzieht. Einfach so, ohne überflüssiges Gepäck und weniger verpackt rauszustreunen. Und dazu kommt die ‚tastende Freude‘, die mir meine Barfüße bereiten. Sie eröffnen mir eine kleine Sinneswelt, die einem mit Schuhen ganz verschlossen bleibt.“

Beim dritten Grund schließlich wird er etwas verlegen und schreibt mir, er habe eine Ahnung, ja eine Sehnsucht, dass durch eine bewusster gelebte Armut die Wege für die wertvolle Erfahrung des Beschenkt-Werdens wieder freier würden. Eine Erfahrung, die ihm in der üblichen Weise, für sich selbst zu sorgen und sich selbst zu bedienen, einfach fehlten.

Als Jesus den Jüngern die Füße wäscht, will er ihnen ein Beispiel geben. Aber zuvor schenkt er ihnen die Erfahrung, dass er für sie da ist als einer, der dient. Das sollen sie sich buchstäblich gefallen lassen, indem er ihre Füße in die Hände nimmt und sie wäscht. Und mit den Füßen seiner Jünger reinigt Jesus auch ihren Zugang zur Welt, ihre Wahrnehmung der Schöpfung und ihre Empfänglichkeit für das, was Gott ihnen schenken will – in der Welt und über die Welt hinaus.

Fra Georg Lengerke

Apr 06, 202304:19
In der Haut des Judas (Morgenandacht DLF vom 5. April 2023)

In der Haut des Judas (Morgenandacht DLF vom 5. April 2023)

Letzten Herbst stand ich im Groeningen-Museum in Brügge vor dem Letzten Abendmahl des Malers Pieter Pourbus aus dem Jahr 1562. Man sieht Jesus, der mit der rechten Hand das Stück Brot in der linken segnet. Um den Tisch sitzen die Jünger. Jesus gegenüber, mit dem Rücken zum Betrachter, sitzt Judas, der Jesus verraten wird. Erkennbar an dem Beutel mit Geld in der Hand.

Es scheint, als wolle er gerade aufstehen. Der linke Fuß ist leicht hinter den Hocker gestellt – und dieser Fuß stellt mich vor ein Rätsel: Zwischen dem Knöchel und den Zehen klafft seitlich eine Lücke in der Haut. Darunter ist eine zweite Hautschicht zu sehen. Die obere Hautschicht wird – wie ein Wanderschuh – mit einem Band an Ösen zusammengehalten.

Es scheint, als habe Pourbus Judas als einen Mann darstellen wollen, der in der Haut eines anderen steckt. Aber was soll das heißen? Ist das der Verräter im Freund oder der Freund im Verräter? Der Wolf im Schafspelz oder das Schaf im Wolfspelz?

Judas ist ja beides: am Anfang der von Jesus zu seinem Apostel Berufene und Bevollmächtigte – und am Ende der, der Jesus für 30 Silberlinge an den Hohen Rat verrät.

Ich stehe vor dem Bild und denke an diese beiden Möglichkeiten:

Vielleicht hat Pourbus Judas als den Wolf im Schafspelz darstellen wollen. Es gibt im Johannesevangelium der Bibel ein dunkles Wort über den Entscheidungspunkt des Judas. Da heißt es: Als Judas beim Abendmahl aus der Hand Jesu ein Stück Brot nimmt, „fuhr der Satan in ihn“ (Joh 13,27). Dieser Satz hat mit dazu geführt, Judas einfachhin als Inkarnation des Bösen darzustellen. Ist es also der Fuß des bösen Feindes, der unter der Haut des Judas hervorlugt? War Judas nur noch die Hülle des Satans, der von ihm Besitz ergriffen hatte?

Ich glaube, damit macht man es sich zu einfach. Judas war nicht einfach zum Bösen verdammt. So etwas tut die Liebe Gottes nicht. Ungeachtet seiner Schwächen war er ja doch einer der Zwölf von Jesus Auserwählten. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem etwas Gegensätzliches zu der Freundschaft mit Jesus in Judas immer mächtiger wurde: War es nur Gier? War es Rache für die enttäuschte Hoffnung auf eine politisch Revolution? Wollte er Jesus so zu einem Wunder und einer Selbstoffenbarung als Messias zwingen? Viel wurde darüber spekuliert. Wir wissen es nicht.

Die zweite Möglichkeit ist, dass uns das Bild den Judas in der Haut eines anderen, also das Schaf im Wolfspelz zeigt.

Mich erinnert das an eine Erzählung in den Chroniken von Narnia von C. S. Lewis: Ein Junge namens Eustachius Knilch will einem Drachen dessen Schatz stehlen. Je mehr er von dieser Idee besessen ist, umso mehr verwandelt er selbst sich in diesen Drachen. In der Gestalt und Haut des Drachen begegnet er seinen Freunden wieder. Sie helfen ihm, zu erkennen, wozu er geworden ist. Das weckt seine Sehnsucht, wieder der zu werden, der er von Gott her eigentlich ist. Es beginnt der Prozess einer mehrfachen Häutung. Bei der Begegnung mit dem Löwen Aslan wird er schließlich durch einen tiefen schmerzhaften Schnitt aus den Resten der Drachenhaut befreit und bekommt seine wahre Lebensgestalt zurück.

Vielleicht ist es das: Auf dem Bild schaut am Fuß noch ein wenig die Lebensgestalt des ursprünglichen Judas Iskariot hervor, den Jesus erkannt und erwählt, berufen und geliebt hat.

Das Evangelium weiß nichts von einer weiteren Begegnung zwischen Judas und Jesus. Judas verzweifelt und erhängt sich. Aber der Maler Pourbus mag uns sagen, dass wir nicht aufhören sollen, für Judas zu hoffen. Und für uns selbst. Dass es noch während unseres Lebens zu jener Häutung kommt, bei der wir aufhören, andere zu sein, als wir für Gott eigentlich sind, und wieder anfangen, nach jenem Anfang zu fragen, der auch bei Judas die Erwählung eines geliebten Freundes war.

Fra' Georg Lengerke

Apr 05, 202304:10
Und wenn alle – ich nicht? (Morgenandacht DLF vom 4. April 2023)

Und wenn alle – ich nicht? (Morgenandacht DLF vom 4. April 2023)

„Et si omnes ego non“. So steht es in weißen Buchstaben auf dem roten Fachwerk eines Hauses in Kreuzberg an der Ahr. „Und wenn alle – ich nicht.“ Das war das Lebensmotto von Philipp von Boeselager (1917-2008), der dort seine letzten Lebensjahre verbrachte. Er war an der Vorbereitung des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt. Er wurde nicht entdeckt und überlebte. „Und wenn alle – ich nicht“, das war eine Entscheidung zum Widerstand gegen die Masse und den Mainstream, gegen das Allgemeine und das Gemeine.

Im Original stammt dieser Satz vom Apostel Petrus. Kurz vor dem Leiden Jesu sagt er zu ihm: „Und wenn alle an dir Anstoß nehmen - ich werde niemals an dir Anstoß nehmen!“ (Mt 26,33)

Schon zuvor neigte Petrus allerdings zum Übermut. Als Jesus einmal davon sprach, dass er in Jerusalem leiden und sterben werde, hatte Petrus ihm scharf widersprochen: „Das darf nicht mit dir geschehen!“ (Mt 16,22) Nirgendwo in der Bibel weist Jesus einen Menschen so harsch zurecht wie an dieser Stelle den Petrus. Er sagt zu ihm: „Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“

Petrus wollte sich Jesus aus Liebe in den Weg stellen. Denn zur Freundschaft gehört es, den Freund vor dem Leiden zu bewahren. Was Petrus jedoch noch nicht wusste, war, dass er sich mit diesem Protest der göttlichen Liebe selbst in den Weg stellte. Und die muss dahin gehen, wo die Schuld und der Schmerz am größten und das Erbarmen und die Erlösung Gottes am nötigsten ist. Er sollte Jesus nicht voran-, sondern hinterhergehen. Und zwar soweit es ging.

Wie weit das sein würde, das wurde für die Jünger immer unsicherer. Bis Jesus ihnen beim Abendmahl sagt, einer von ihnen werde ihn verraten. Einer nach dem anderen fragt: „Bin ich es etwa, Herr?“ Jetzt ahnte jeder, dass die Möglichkeit des Verrates auch in ihm steckte.

Als Jesus später ankündigt, dass alle an ihm Anstoß nehmen und ihn verlassen würden, bricht aus Petrus der alte Übermut ein letztes Mal heraus: „Wenn auch alle – ich nicht!“ Und Jesus sagt ihm, dass er ihn noch vor dem Hahnenschrei dreimal verleugnen werde. Als wenig später Jesus verhaftet wird, fliehen die Jünger. Alle. Auch Petrus. Und als er sich später nochmal in die Nähe Jesu traut, wird er auf ihn angesprochen und verleugnet ihn: „Ich kenne diesen Menschen nicht!“

Warum hat Philipp von Boeselager sich ausgerechnet dieses Wort als Lebensmotto gewählt? Wenn Petrus selbst sich offensichtlich überschätzt und Jesus wenig später eben doch verlassen hat – genau wie alle anderen auch. Als ich mit Boeselager einmal über den Druck auf Menschen im Widerstand gegen übermächtiges Unrecht sprach, sagte er, wir könnten uns unserer selbst halt niemals sicher sein. Auch er war sich seiner selbst nicht sicher: Weil er fürchtete, unter der Folter sofort zusammenzubrechen, trug er bis Kriegsende für den Fall seiner Verhaftung immer eine Zyankali-Kapsel bei sich. Bei Vorträgen pflegte er zu sagen: „Die Überlebenden einer Tragödie sind niemals deren Helden.“

Wenn andere vor großen Herausforderungen ängstlich werden, dann muss ich mich immer erinnern, dass ich nicht an ihrer Stelle bin. Ich weiß nicht, ob ich den Heldenmut gehabt hätte, den ich von ihnen erwarte. Petrus wollte ein Held sein und für Jesus sterben. Doch am Vorabend von Ostern kehrt sich für ihn die Geschichte um: Nicht er stirbt für die Liebe. Zuerst stirbt die Liebe für ihn. Und sie siegt ein für alle Mal dort, wo sie auch am Kreuz und im Hass die Liebe bleibt.

Der Glaube an diese vorausgehende Liebe Gottes hat seither unzähligen Menschen den Mut gegeben, beides zu tun: sich ihrer Schwachheit zu stellen – und diese Entscheidung zu wagen: „Wenn auch alle – ich nicht.“

Fra' Georg Lengerke

Apr 04, 202304:25
Herzlich Willkommen und sei verflucht (Morgenandacht DLF vom 3. April 2023)

Herzlich Willkommen und sei verflucht (Morgenandacht DLF vom 3. April 2023)

„Sie küssten und sie schlugen ihn.“ So lautet der deutsche Titel eines preisgekrönten Films von Francois Truffaut aus dem Jahr 1959. Er handelt von einem 14jährigen Jungen in Paris, der in zerrütteten Familienverhältnissen aufwächst, und abwechselnd die Zuwendung und Ablehnung der Erwachsenen erfährt.

Auch wenn die Geschichte eine ganz andere ist – „Sie küssten und sie schlugen ihn“ wäre auch eine passende Überschrift über den Ereignissen der letzten Tage Jesu. Das wird besonders am gestrigen Palmsonntag deutlich, an dem die Kirche sich diese letzten Tage in Erinnerung ruft: Da wird Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem mit dem begeisterten Jubelruf der Menge empfangen. Doch schon wenige Tage später folgt der Karfreitag, an dem Jesus von der aufgepeitschten Menge verworfen und schließlich qualvoll hingerichtet wird.

Es muss eine geradezu volksfestliche Stimmung gewesen sein, als Jesus am Palmsonntag auf einem Esel in die Stadt einzog. Die Bibel erzählt, die Menschen hätten die Straße mit ihren Kleidern und mit Zweigen bedeckt. Sie singen Psalmen über den kommenden Messias, und die Augenzeugen erinnert das Ganze an den Propheten Jesaja, der dem Volk Israel, der „Tochter Zion“, ausrichten lässt, dass sein sanftmütiger König auf einer Eselin in Jerusalem einziehen wird.

Mir ist an der Stelle immer etwas weihnachtlich zumute. Der Evangelist Matthäus zitiert aus dem Alten Testament dieselben Texte, die wir heute noch in dem Weihnachtslied „Tochter Zion“ von Georg Friedrich Händel singen: „Tochter Zion, freue dich! / Jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir! / Ja, er kommt, der Friedensfürst.“ Die Freude in dieser Szene hat wirklich etwas Weihnachtliches. An Weihnachten kommt Gott als Mensch in die Geschichte der Welt und jedes Menschen, der ihn aufnehmen will. Am Palmsonntag zieht derselbe in die heilige Stadt ein und wird von den Menschen als der erkannt, willkommen geheißen und gefeiert, der ihr Leben wenden kann.

In den folgenden Tagen spitzt sich die Lage um Jesus zu – bis er nach der Feier des Abendmahls in einem Garten am Ölberg außerhalb der Stadtmauer verhaftet wird.

Während des öffentlichen Prozesses hat sich das Blatt komplett gewendet. Die aufgehetzte Menge fordert seinen Tod, und will den am Kreuz sterben sehen, den sie gerade noch als messianischen König bejubelt haben. Wie viele davon waren wohl dieselben, die am einen Tag ihre Mäntel vor Jesus auf die Straße gebreitet und aus voller Kehle den Jubelruf Hosanna angestimmt haben – und wenig später wutschnaubend seinen Tod forderten?

Ich frage mich, wo ich in diesen Tagen gewesen wäre. Auch die Jünger haben ja im Laufe dieser Tage alle die Flucht ergriffen, ihn verleugnet oder verraten. Wo hätte ich gestanden, wenn selbst seine Nächsten nicht geblieben sind?

Vor einigen Jahren hatte ich in der Zeit vor Ostern eine unruhige Zeit. Es stellte sich die Frage, wie es mit mir weitergehen sollte. Irgendwie war ich „dünnhäutig“ und sensibler als sonst – auch im Hören der Lesungen der Woche vor Ostern. Mir ging alles reichlich nahe: das „Hosanna dem Sohne Davids!“ wie das „Ans Kreuz mit ihm!“

Am Karfreitag bei der Verehrung des Kreuzes sah ich dann den nackten Jesus am Kreuz hängen. Die Arme weit ausgebreitet. Als wollte er mich und die ganze Menschheit umarmen. Sie hatten ihn geküsst und geschlagen. Und nun kam es mir so vor, als wäre er es, der mich willkommen heißt. Als wäre an diesem tiefsten Punkt seines und unseres Lebens er derjenige, der uns erwartet und ankommen lässt bei ihm, um uns in die Arme zu schließen und uns mitzunehmen in jenes Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.

Fra' Georg Lengerke

Apr 03, 202304:08