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Ränder. Theorien der Literatur II. Gespräche

Ränder. Theorien der Literatur II. Gespräche

By Guido Graf

"In deinen Sätzen bist du an ihrem Rand" (Oskar Pastior). Schreiben ohne Zentrum und fern vom Eigenen, sondern immer als das Andere. Identitätsbegriffe, die nur von den Rändern her gelesen werden können. Sätze am Rand der Sätze und die Konturen literarischer Praxis als soziale Poetik. Ungehörte Stimmen, von jetzt, von morgen, von vorgestern, Stimmen, ohne die uns Hören und Sehen vergeht, erzählen von den Rändern her. Für eine andere Literatur, für andere Literaturen und andere Theorien von Literatur, für ein anderes Lesen und Schreiben.
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Clemens Setz – Gespräch. Episode 1

Ränder. Theorien der Literatur II. GesprächeNov 05, 2021

00:00
01:17:18
Klaus Theweleit, Gespräch. Episode 13

Klaus Theweleit, Gespräch. Episode 13

„mein ‚Ich‘ ist überhaupt nichts Gewagtes! ich stelle es lediglich mit aller Sorgfalt dar! … mit tausend Vorsichtsmaßnahmen! … ich bedecke es stets vollständig und auf die behutsamste Art und Weise mit Scheiße!“

Das schrieb Louis-Ferdinand Céline in seinem schmalen Buch „Gespräche mit Professor Y“. Ein Band, der noch am ehesten als so etwas wie eine Poetologie durchgehen könnte.

2021 ist „Tod auf Raten“, die Neuübersetzung von „Mort a credit“ erschienen. Hinrich Schmidt-Henkel hat erstmals den zweiten Roman von Céline vollständig übersetzt. Die erste Übersetzung, unter dem Titel „Tod auf Kredit“ war deutlich schmaler. Zuerst ist der Roman 1936 herausgekommen, vier Jahre nach dem Debüt „Reise ans Ende der Nacht“, mit dem Céline damals schlagartig berühmt geworden ist. So hat niemand zuvor die französische Sprache auf Touren gebracht. Mit dem zweiten Buch lieferte Céline nun einen stark autofiktionalen Roman hinterher, der von Kindheit und Jugend seines Alter Ego Ferdinand erzählt. Nur ein Jahr später veröffentlichte Céline die erste seiner extrem antisemitischen Hetzschriften, die „Bagatelles pour un massacre“.

Grund genug, der Frage - wie wird man Nazi - auf den Grund zu gehen.

Diese Frage hat maßgeblich das Werk des deutschen Kulturtheoretikers Klaus Theweleit bewegt, der in diesen Tagen 80 Jahre alt wird. 1977/78 erschien seine bahnbrechende, monumentale Untersuchung „Männerphantasien“ über die Entstehung des faschistischen Mannes. Als Theweleit 2021 den Adorno-Preise erhielt, sagte er in seiner Preisrede, dass ihn schon früh, aus den Erfahrungen in seiner eigenen Familie heraus, die Frage bewegt hat: „wie kann man Deutscher sein?“

Die Frage nach dem Nazi-Werden, nach der Dynamik von Kunst- und Machtpol, vor allem in der Literatur, hat Theweleit dann von 1988 an in seinem nächsten großen Werk untersucht, dem auf vier Bände angelegten „Buch der Könige“. Darin geht es im Gottfried Benn, Ezra Pound, Knut Hamsun, Franz Kafka, Sigmund Freud und viele andere mehr. „Eh man sich dazu äußert,“ schreibt Theweleit einmal, „was eine Figur wie Benn gesucht, gewollt und gemacht hat am Nazi-Pol, muss man beschreiben, zwischen welchen Polen sie sich sonst bewegte, beschreiben, wo und was diese waren um 1930, beschreiben, was der Kunst-Pol ist, was man da macht, was man dazu braucht, sich dort aufhalten zu können“. Der vierte Band sollte sich hauptsächlich mit Louis-Ferdinand Céline beschäftigen. Diesen Band wird es nicht mehr geben. Also habe ich für diese letzte Folge in „Ränder. Theorien der Literatur“ versucht, im Gespräch mit Klaus Theweleit wesentliche Punkte seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Céline aufzusuchen. Wir haben über Kotze und Scheiße ebenso gesprochen, wie darüber, was Frauen wie Astrid Lindgren, Patricia Highsmith oder Else Lasker-Schüler anders gemacht haben als all diese Männer.


Das war die letzte Episode der zweiten Staffel. Ob es weitergeht, ist momentan noch nicht zu sagen.

Gerade ist die erste Staffel dieser Vorlesung als Buch erschienen: „Theorien der Literatur“ im Universitätsverlag Hildesheim, als erster Band von „Theorie & Praxis“, der neuen Schriftenreihe des Literaturinstituts Hildesheim. Überall im Buchhandel erhältlich, 222 Seiten für 10 Euro. Die  kostenlose elektronische Fassung dieses Bandes findet sich hier.

Ich bedanke mich bei allen meinen Gesprächspartner:innen, die diese Vorlesung, diesen Podcast überhaupt erst ermöglicht haben. Bei: Clemens Setz, Karosh Taha, Rasha Khayat, Ulf Stolterfoht, Katerina Poladjan, Abdalrahman ALqalaq, Shida Bazyar, Nava Ebrahimi, Georg Klein, Olga Grjasnowa, Mithu Sanyal, Dagmara Kraus, Khesrau Behroz und Klaus Theweleit.


Feb 06, 202201:05:05
Khesrau Behroz. Gespräch. Episode 12

Khesrau Behroz. Gespräch. Episode 12

„Ich schlage alle Warteschlangen aus, laufe in den Schneisen, die Du schlägst. Das ist der einzige Weg. - Ich schäme mich. In dieser Stadt hängt der Segen schief. Doch in meinen Erinnerungen ist Kabul so weiß. Du bist mir in das Kranke nhaus gefolgt. - Ich habe mich nur hingesetzt, wo niemand saß, hielt eine Hand, die niemanden hielt. - Weil ich mich verloren hatte in ärmlichen Gedanken.“

Seit knapp einem Jahr postet Khesrau Behroz auf seinem Instagram-Kanal Prosa-Fragmente, die seinem langjährigen Romanprojekt entnommen sind.

Khesrau Behroz, geboren in Kabul (Afghanistan), arbeitet als Journalist und Autor. Er entwickelt und produziert journalistische Formate als Co-Gründer und -Geschäftsführer der neuen Berliner Produktionsfirma Undone.

Er ist Host und Produzent des Podcasts Noise und hat als Autor, Host und Producer Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen? gemacht. Behroz ist zudem Mitherausgeber und Chefredakteur des Gesellschaftsmagazins ROM. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, der Freien Universität Berlin und der New York University.

Wir haben über Wahrheit gesprochen und wie relativ sie zu persönlichen und auch sozialen und historischen Veränderungen aussehen kann. Wir haben über seine Aufsehen erregenden Podcasts gesprochen, über das Was und vor allem das Wie des akustischen Erzählens. Aber zunächst ging es um seinen schon fast legendären Roman.

Jan 26, 202243:00
Dagmara Kraus. Gespräch. Episode 11

Dagmara Kraus. Gespräch. Episode 11

drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind

kau die an der kruste hier muskeln an, nimm“

So heißt es in Dagmara Kraus’ jüngstem Gedichtband liedvoll, deutschyzno, der 2021 bei kookbooks erschienen ist.

liedvoll, deutschyzno moja

1

millionen flüchtige wörter stehen an
der grenze zu diesem gedicht
die beine in den bauch sich
schlange an der grenze
dunkle wörter, dunkle fremde
suchen nach zuflucht, wollen hier wohnen
verjaschmakt, betschadort, da warten
mummen von jenseits der pole
es sind welche von ungarn gekommen
zupełnie niedeutschałe słowa
drängen sich hier in die futura
ręce błagają, bebeten die grenzen
deine, deutschyzno moja

2

aber was soll ein gedicht mit den millionen
flüchtigen wörtern nur anfangen

es könnte mit ihnen kickern gehen
schlägts kickern vor
sie einladen zu bier, püree und kohlrouladen
oder mal ne reise machen an ein schönes wort
und ihnen die gegend zeigen, gegend

es könnte millionen wörter einfach schweigen
und müsste jetzt nicht gründeln, mörtel, münze
wrack und wub erleiden, schlackern, lecker
mords- und mergel - wiesz
es könnte wieder flippern wie am rastplatz
weil die zeit lang wird
und mit der tinka auffe kirmes gehn
sich in die zukunft sehen lassen
vom pinken clafoutisschafott im pelz

es könnte schützenfest und adlerschuss verpassen
und an der lippe laufen, wo die mimik hüpft
dann am frühen winkelwasser
in schnöden reimen kurz verschnaufen

auch könntes doch ins olle haus
das haus am halben mond 1iehen
und dem fallmann hin und wieder
den fadengang von buche andiktieren
(er soll ihn immer mit zwei fingern nachfahren)

dabei könntes aus dem kickern 'skern
und all den kiciuśkitsch entfernen
und stattdessen andere wörter weiden
vielleicht fremde wörter heimen
raffig, diese flüchtigen, mehrbarwigen
die völkerball in föderalen hallen spielen
- aber millionen

abermillionen


doch bleibts bloß ein kern am kitsch
beim kern am kitsch

3

abgeschoben ausgespuckt
da ist etwas kleinstes blaurosa
gepuckt, wie ein taubenschluck
leise weints mitten im pulk

wo sind denn die aus dem morgenland
die drei worte mit den gaben
nix myrrhe hier
her mit dem schwarz-rot-gold

wörter aus dem buch der könige
hocken im containerdorf: umfwörter
aus saba, noch milchschorf im haar
labern babel

Über diese Sprachen haben wir gesprochen, über das Anfangen, über Lektüren und wir haben gesprochen über den Zusammenhang von Übersetzen und Schreiben wir sind bei Emilie Cioran gelandet, über den Dagmara Kraus einst wissenschaftlich gearbeitet hat, bei den Plansprachen, um die es auch schon in der ersten Folge dieses Podcasts, im Gespräch mit Clemens Setz ging.

Wir sind den Verfahren nachgegangen, mit denen Dagmara Kraus schreibt, dem Material, dem flüsternd lauten Schreiben.

Dagmara Kraus hat Komparatistik und Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin und Paris studiert sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2012 veröffentlichte sie bei kookbooks ihren Debütband kummerang. Im selben Jahr erschienen unter dem Titel Wir Seesterne ihre Übersetzungen von Gedichten Miron Białoszewskis. Zahlreiche Lyrikbände und Übersetzungen sind seitdem gefolgt. Seit 2021 ist sie Juniorprofessorin für literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim.

Jan 19, 202201:05:03
Mithu Sanyal. Gespräch. Episode 10

Mithu Sanyal. Gespräch. Episode 10

„Herzlichen Glückwunsch, du bist ein Kinder-Überraschungsei: Nichts könnte sweeter und überraschender sein als du.“ Das ist mein Ergebnis des Tests „Wie braun bist Du?“, den man auf der Seite machen kann, die der Hanser Verlag zu Mithu Sanyals Roman Identitti eingerichtet hat. Allerdings habe ich den Test gemacht, nachdem ich das Buch gelesen und damit vermutlich geschummelt habe.

Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch Vulva. Das unsichtbare Geschlecht, 2016 Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens. 2021 nun kam also ihr erster Roman Identitti, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet wurde.

Saraswati ist weiß. Das kommt heraus und ist für die meisten ihrer Anhänger:innen ein Skandal. Denn Saraswati ist Professorin für Postcolonial Studies und gilt als Koryphäe im Identitätsdiskurs. Insbesondere ihre Studentin Nivedita, die auch unter dem Namen Identitti einen Blog führt, wird in große Verwirrung gestoßen.

Identitti ist ein heiterer Roman, dem es auch um Theorien geht, aber es ist kein Diskursroman. Ob Saraswati weiß ist oder nicht, ist eigentlich egal. Wichtig ist, ob das, was Nivedita bei ihr lernt, eine Bedeutung hat - oder nicht. Wir sprechen darüber, dass wir nicht darauf warten müssen, dass jemand perfekt ist, um von ihr oder ihm lernen zu können. Und gleichzeitig, dass es nicht egal ist. Wir sprechen darüber, wie integrieren geht ohne Demütigung. Was es heißt, eine Sprache für mixed race zu finden, und dass diese Suche auch eine Frage der Form und der Sprache ist. Dass wir hier sind, um Geschichten zu erzählen.

Jan 12, 202249:19
Olga Grjasnowa. Gespräch. Episode 9

Olga Grjasnowa. Gespräch. Episode 9

„Vier Sprachen sind es wert, dass man sie auf der Welt gebraucht: Griechisch für den Gesang, Latein für den Krieg, Syrisch für die Klage und Hebräisch für die gewöhnliche Rede.“

Diesen Satz zitiert Olga Grjasnowa aus dem Talmud und wundert sich über die deutsche Vorstellung von der Einsprachigkeit als der einzig vorrstellbaren Lebensweise.

Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt: so heißt der Essay, den Olga Grjasnowa 2021 veröffentlicht hat. 1984 wurde sie in Baku, Aserbeidschan geboren und hat bislang vier Romane veröffentlicht. Ihr Debüt 2012 war der Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt und 2020 erschien der jüngste Roman Der verlorene Sohn.

Anknüpfend an ein Gespräch, das ich 2020 mit Senthuran Varatharajah geführt habe, in dem wir unter anderem auch über Jacques Derridas Text Die Einsprachigkeit des Anderen gesprochen haben, geht es nun um Realitäten der Mehrsprachigkeit und um die merkwürdige Vorstellung, eine Sprache zu beherrschen. Wir sprechen darüber, wie wichtig es ist, dass wir in Bezug auf die Sprache weg von der Herkunftsperspektive kommen. Wie wichtig ein Fach Weltliteratur in der Schule wäre. Wie die Realität längst Selbstverständlichkeiten jenseits der Ideologien schafft. Wie das literarische Schreiben und Mehrsprachigkeit zusammenhängen und wie literarische Formen immer auch Übersetzungsleistungen sind.

Jan 05, 202235:12
Georg Klein. Gespräch. Episode 8

Georg Klein. Gespräch. Episode 8

Bruder aller Bilder: das ist der Titel des jüngsten Romans von Georg Klein, könnte aber, so denke ich unwillkürlich, auch eine Art Beiname für diesen einzigartigen Schriftsteller sein, der zahlreiche Romane und Erzählungen publiziert hat, die sich mindestens in einem ähnlich sind: in ihrem Bildreichtum.

Im Großen, in den Erzähltableaus der grünlich oder matt eingefärbten Städte aus Libidissi oder Barbar Rosa, den Zukunftsszenarien auf dem Mars oder bis ins Kleinste, seien es das Weichglas oder der Nährflur in der Bürowelt von Miakro, die vielgestaltige und kleinteilige Welt aus Roman unserer Kindheit. Immer wieder scheint es, als stünden diesem Autor alle Bilder zur Verfügung. In Miakro, dem vorletzten Roman von Georg Klein heißt es einmal:

Ab und an ist die Wucht des Fremden so groß, dass es den Panzer des Nichtverstehenmögens wie ein Geschoss durchschlägt und das Begreifen erzwingt.“

Dieser Wucht haben wir im Gespräch für die Ränder, Theorien der Literatur 2 versucht zu folgen, in die Erinnerung, die sich im Körper sättigt, und wie man das in Literatur verbaut, über den Überschuss letzter Lockerungen, über Autotelefone und Sportreporter und über den Humor von Trauminstanzen.

Dec 30, 202148:04
Nava Ebrahimi. Gespräch. Episode 7

Nava Ebrahimi. Gespräch. Episode 7

„Wenn man als Migrantin in eine neue Gesellschaft kommt, ist man erst einmal relativ sprachlos und nur in der Rolle des Beobachters und muss erst einmal eine Form finden, die eigene Geschichte zu erzählen. Und vielen gelingt das niemals. Sie bleiben ein Leben lang sprachlos und ein Stück weit unsichtbar. Kunst und Kultur sind ein möglicher Weg, diese Sprachlosigkeit zu überwinden.“

Das hat Nava Ebrahimi erklärt, als sie 2021 den Bachmannpreis gewann.

Nava Ebrahimi ist eine deutsche Schriftstellerin, die im Iran geboren wurde, in Köln aufgewachsen ist und heute in Österreich lebt.

Ihr Debütroman Sechzehn Wörter erschien 2017, ihr zweites Buch, Das Paradies meines Nachbarn, 2020.

Ich bin Guido Graf und in dieser siebten Folge von Ränder. Theorien der Literatur 2 spreche ich mit Nava Ebrahimi über diese beiden Romane und über das, was dazwischen passiert ist; über ihr politisches Schreiben, über das Ankommen und das Nicht-Ankommen und darüber, wie man von der Nähe von Leid und Lust erzählen kann.

Dec 21, 202151:38
Shida Bazyar. Gespräch. Episode 6.

Shida Bazyar. Gespräch. Episode 6.

Fast am Anfang von Nachts ist es leise in Teheran, dem ersten Roman Shida Bazyars, erschienen 2016, sitzen drei Freunde nachts auf einem Dach und sehen auf die Lichter und Häuser Teherans. Aber eigentlich tauchen sie in Erinnerungen ein, an die Stadt der Kindheit und daran, wie man wird, was man ist. Am Anfang von Shidas neuem, dem zweiten Roman Drei Kameradinnen sitzen die drei Protagonistinnen Sayam Hani und Kasih ebenfalls auf einem Dach, diesmal in Berlin. Kasih, die Erzählerin dieses Romans, zweifelt an diesen Erinnerungen und erzählt doch, dicht und schnell, in einer Nacht, was ihnen widerfahren ist, was sie machen, wie sie zu denen geworden sind, die sie sind: „wir nehmen das, was uns als Realität verkauft wird, und übermalen damit unsere eigenen Biografien.“

Shida Bazyar, geboren 1988, studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim, war neben dem Schreiben in der Jugendbildungsarbeit tätig. Drei Kameradinnen war für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Wir sprechen über das Studium in Hildesheim und Shidas Entwicklung, über die prekären Bedingungen des Literaturbetriebs, über Machtstrukturen und Erzählweisen, über Klassenwechsel und den sogenannten Migrationshintergrund, über erste Sätze und die Notwendigkeit einer intersektionalen Ästhetik.

Dec 13, 202151:53
Katerina Poladjan & Abdalrahman Alqalaq. Gespräch. Episode 5

Katerina Poladjan & Abdalrahman Alqalaq. Gespräch. Episode 5

„Stell dir vor“, sagt Lilith im Herbst 2014 in der armenischen Hauptstadt Jerewan zu Katerina Poladjan, „du erzählst die Geschichte deines Großvaters, und jemand sagt dir, dass sie nicht wahr ist, dass du lügst“

Katerina Poladjan schreibt dazu: „Ich habe einen armenischen Namen. Ich kann kein Armenisch. Ich lausche den Worten und verstehe sie nicht. Ich höre nur das Raunen, das Rauschen. In Armenien konnte ich mich auf Russisch unterhalten. Ich bin hingefahren, ich wollte das Land sehen, dem ich meinen Namen verdanke.“ In diesem Kontext ist ihr dritter Roman „Hier sind Löwen“ entstanden, eine Spurensuche, eine Tiefenbohrung: Die Buchrestauratorin Helen ist in Moskau geboren, ihre Familie kommt jedoch aus Armenien und auf Drängen ihrer Mutter reist sie nach Jerewan, wo ihr eine alte Familienbibel in die Hände fällt. Dieses Buch gehörte einst der 14-jährigen Anahid und ihrem kleinen Bruder, deren Geschichte in einer zweiten Erzählebene entwickelt wird. Poladjan erzählt die beiden durch die Bibel miteinander verknüpften Geschichten.

Katerina Poladjan wurde 1971 in Moskau geboren, kam als Kind nach Deutschland. Sie arbeitet als Schauspielerin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. 2011 erschien der erste Roman In einer Nacht, woanders im Rowohlt Verlag. 2015 folgte der Roman Vielleicht Marseille und 2016 der literarische Reisebericht Hinter Sibirien. Eine Reise nach Russisch-Fernost, den sie gemeinsam mit dem Autor und Regisseur Henning Fritsch schrieb. 2015 nahm Poladjan am Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 teil und 2019 erschien der Roman Hier sind Löwen, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

Abdalrahman Alqalaq ist ein syrisch-palästinensischer Lyriker, der in Damaskus geboren wurde und nun in Deutschland lebt.

Beide verbindet die Liebe zum Wort und zum Spiel: Katerina Poladjan und Abdalrahman Alqalaq. Für die Plattform Weiterschreiben.Jetzt haben sie sich wechselseitig geschrieben, über Gott und Teufel, ihrer Sehnsucht nach Katzen, von Kampffliegern und trauernden Zitronenbäumen. Und über die Frage: Was tue ich eigentlich hier auf dieser Welt?

Nach der Lektüre von Hier sind Löwen schreibt Abdalrahman Alqalaq an Katerina Poladjan:

„Hätte ich Deiner Protagonistin etwas sagen können, hätte ich ihr ein paar Sätze aus einem Text zugeflüstert, den ich im September 2015 an einen Freund schrieb, als ich befürchtete, die griechische Küste niemals zu erreichen. Ich würde Anahid sagen: Bevor du deine Heimat verlässt, leg das Verlangen ab, das Denken und die Erinnerung an den Duft der Haut der Menschen, die du liebst. Wenn du kannst, zerreiße die inneren Bilder.“

Dec 07, 202147:37
Oskar Pastior - Ulf Stolterfoht. Gespräch. Episode 4

Oskar Pastior - Ulf Stolterfoht. Gespräch. Episode 4

Oskar Pastior: Am Rande denkst du

Am Rande, denkst du, denkst du Sätze, die dich den-
ken. Du denkst, sie denken dich. In deinen Sätzen
bist du an ihrem Rand. Du bist eine Anrandung von

Sätzen, die dich an den Rand stoßen, Gegensätzen,
und auch an denen wandelst du entlang. Sätze, die
dich gegensätzlich denken, wandeln dich an und den-

ken Gegensätze, die du nicht denkst. An deinen Tat-
beständen kommst du nicht vorbei – es sind seltsame
Sätze. Du kannst an sie denken, sie denken nicht an

dich, sie denken dich seltsam am Rande, du bist ei-
ne Anwandlung von ihnen, die an Gegensätzen nicht
vorbeikommen. Am Rande der Sätze, in denen du bist,

liegst du noch ganz am Rand, wenn du darüber hinaus
denkst. Auch sie denken dich hinüber doch an ihren
Tatbeständen kommen sie nicht vorbei. Es sind nur

Sätze, die nur denken können. Du denkst, sie denken
dich, sie denken, du denkst sie, es ist eine Ver-
schwörung an den Sätzen, die dich nicht abwerfen

können, die du nicht abwerfen kannst, ein Inzest.
Am Rande des Denkens, solange du denkst, liegst du
in Sätzen an Sätzen, noch kann dich keiner über den

Rand verstoßen, den du nicht denkst, seltsam, du 
bist nur in Sätzen in Sicherheit, die dich wiegt,
und nur in Sätzen in Freiheit, aber in welcher.

(Oskar Pastior:  Wechselbalg. Gedichte 1977-1980. Verlag Klaus Ramm: Spenge 1980.

Dieses Gedicht war der Anstoß zur Vorlesung Ränder - Theorien der Literatur II. Warum? Darüber spreche ich mit dem Lyriker Ulf Stolterfoht, der auch Mitglied im Stiftungsrat der Oskar Pastior Stiftung ist.

Geboren wurde Oskar Pastior 1927 in Hermannstadt (Siebenbürgen); 1945–1949 Deportation ins sowjetische Arbeitslager im Donbas. Nach der Rückkehr Gelegenheitsarbeit, Studium der Germanistik und schließlich Rundfunktätigkeit in Bukarest. 1964 erschien der erste Gedichtband Offne Worte. 1968 Flucht in den Westen. Lebte seit 1969 als freier Schriftsteller in Berlin. Mitglied der Werkstatt für Potentielle Literatur, «OuLiPo», die alle drei Jahre im Literaturhaus Berlin tagt. Ebenso war Pastior Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Akademie der Künste in Berlin. Oskar Pastior starb am 4. Oktober 2006 in Frankfurt a.M. Die Verleihung des ihm zugesprochenen Georg Büchner-Preises konnte nur noch posthum erfolgen.

Oskar Pastior wurde nach seinem Tod vorgeworfen, dass er 1961 eine Verpflichtungserklärung bei der Securitate, dem rumänischen Geheimdienst, unterschrieben hat, in der er sich verpflichtet, als IM für sie tätig zu sein, und dass er diese Verpflichtung sieben Jahre lang bis zu seiner Ausreise aus Rumänien 1968 nicht widerrufen hat. Seine tatsächlichen Spitzeltätigkeiten können nach heutigen Erkenntnissen als harmlos eingestuft werden. Dennoch hat diese Offenbarung auch die Rezeption seines Werks beeinflusst.


Ulf Stolterfoht wurde 1963 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur Zivildienst (Forstarbeit mit Obdachlosen). Danach ein Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Bochum und Tübingen. Seit 1994 lebt er in Berlin, seit 2000 als freier Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Gertrude Stein, J.H. Prynne und Tom Raworth). Er ist Lyriklehrer an den Instituten in Wien, Biel, Kopenhagen und immer mal wieder in Leipzig. 2009 hatte er die Poetikdozentur an der Universität Hildesheim. Ulf Stolterfoht ist Knappe der Lyrikknappschaft Schöneberg und seit 1982 Teil des Impro-Kollektivs DAS WEIBCHEN. Im Herbst 2014 nahm sein Verlag BRUETERICH PRESS die Tätigkeit auf: „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis“

Nov 29, 202101:34:10
Rasha Khayat - Gespräch. Episode 3

Rasha Khayat - Gespräch. Episode 3

West-östliche Diva, so heißt der Blog von Rasha Khayat. Sie ist Autorin und Übersetzerin. In Jeddah, Saudi-Arabien geboren, wuchs sie dann mit ihrer Familie im Ruhrgebiet auf. Sie arbeitete als Lektorin und 2016 erschien ihr erster Roman Weil wir längst woanders sind.

Wir haben über weiße Strukturen in Verlagen gesprochen, über ihren Text "Ich bin nicht euer Migrationsmaskottchen", darüber wie Verlage mit migrantischen Stimmen arbeiten, über Instagramcasting, Diversität als Trend, über Ali Smith, die autobiographische Faulheit von Journalisten und über das Gegenteil von Fremdheit.

Nov 22, 202101:07:28
Karosh Taha - Gespräch. Episode 2

Karosh Taha - Gespräch. Episode 2

"Wenn es einen Grund zum Schreiben gibt, dann um eine neue Sprache, einen neuen Ausdruck für das zu finden, was da ist oder was nicht da ist. Toni Morrison schreibt, Literatur sei eine „alternative language“ als die Sprache, die uns tagtäglich umgibt. Wir müssen in die Lage versetzt werden, in einer anderen Sprache zu schreiben, in die Grammatik einzudringen, nicht der Alltagssprache zu verfallen, die Sprache, wie sie gesprochen wird zu brechen, in den Spalt zu schauen und das Gebrochene zu entdecken, gebrochen Deutsch zu schreiben."

Das schreibt Karosh Taha. Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Ihr Debütroman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ erschien 2018 bei DuMont. Sie wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, darunter der Förderpreis des Landes NRW, das Stipendium Deutscher Literaturfonds und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium 2019. 2020 folgte ihr zweiter Roman: "Im Bauch der Königin". Ein Wenderoman im wörtlichen Sinn: zwei Perspektiven, zwei Geschichten.

Wir sprechen über das Korsett der Chronologie, den Unterschied zwischen Schreiben und Lesen und über die Kunst Regeln zu brechen und sich in Frage zu stellen.

Nov 14, 202146:05
Clemens Setz – Gespräch. Episode 1

Clemens Setz – Gespräch. Episode 1

Nov 05, 202101:17:18