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Gespräche an der Wertach

Gespräche an der Wertach

By LiteraturhausAUX

In dieser Podcastreihe spricht das Literaturhaus Augsburg mit verschiedensten Gästen über Literatur, Kultur, Ästhetik, das Leben und vieles mehr.
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Sternekoch Simon Lang über Schönheit als Schutzschild gegen die Hässlichkeit in der Welt

Gespräche an der WertachMar 22, 2020

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57:19
"Pierre D., eine Wolke in Hosen": Die Unschärfe der Person

"Pierre D., eine Wolke in Hosen": Die Unschärfe der Person

An einem milden Frühsommerabend machen sich Dr. B und seine Kolleginnen Lisa und Caro auf den Weg. Sie suchen sich ein idyllisches Kiesbänkchen an der Wertach, um umgeben von einem alten Autoreifen und geleerten Wodkaflaschen über Sophie Calles Adressbuch zu sprechen.

Die Erzählerin findet das Adressbuch eines gewissen Pierre D. und startet ein Experiment. Sie trifft sich mit Freunden und Familie, um, Erkenntnisse über Pierre D. zu erlangen. Nach und nach lassen diese Erkenntnisse ein Bild vor dem inneren Auge entstehen. Dennoch bleibt dieses Bild, trotz verschiedener, interessanter Facetten gleichzeitig leer.  Sophie Calle hat diese Begegnungen mit den Menschen aus Pierres Adressbuch dokumentiert. 1983 erschienen diese Dokumentationen einen Monat lang als Serie in der französischen Tageszeitung Libération. Damals lösten sie einen Skandal aus. Heute wahrscheinlich auch, nur unter dem neuen Begriff “stalking”.

Heute finden wir im Café vermutlich kein verlorenes Adressbuch mehr. Vielleicht ein Smartphone. Dank Instagram, Google, Facebook und Co ist es ein leichtes, verschiedene Aspekte einer Person herauszufinden. Man gibt wenige Schlagwörter in eine Suchmaschine ein oder ruft das Profil desjenigen auf. Aber gelingt ein Kennenlernen so besser?

Werte Zuhörer, haben Sie schon einmal eine Person digital erkundet, vielleicht sogar gestalked? Auf Datingplattformen à la Tinder stellen sich Menschen mithilfe weniger Bilder, Sentenzen oder Pseudo-Wisdoms vor. Die einen zeigen ihr pornösestes Duckface, ihre Thighgap oder den Monsterbizeps, die anderen lichten sich beim Eiswasserfallklettern, mit der anspruchsvollen Lektüre oder beim Kröten-über-die-Straße-Tragen ab. Auf jeden Fall skizziert man ein Bild seines eigenen Lebens, wie man sich gerne sehen würde. Am besten authentisch, selbstbewusst und „mit beiden Beinen im Leben stehend“.

Ist es möglich, oder besser: will man ein „authentisches“, bruchloses Bild abgeben? Heute, im Zeitalter der sogenannten Achtsamkeit, wird oft postuliert, dass es wichtig sei, authentisch, man selbst, mit sich im Reinen oder angekommen zu sein. Für mich sind das inhaltsleere Begriffe. Was soll das bedeuten, authentisch, also echt zu sein? Ist das überhaupt relevant oder erstrebenswert? Ist nicht alles, auch das Sich-Verstellen, ein authentischer Teil meiner selbst? Ist nicht das Gesellschaftlich-Aufgezwungene, von dem ich mich vermeintlich befreien muss, für mich genauso echt wie das angeblich Unverstellte? Was ist echt? Ist „wissen was man will“ echt oder darf man als Mensch widersprüchlich sein?

Die Gleichung, je mehr eine Person über ihr Leben teilt desto besser lernt man sie kennen, geht nicht auf. Ist es nicht reizvoller, jemanden zu treffen, der nicht schon vermeintlich jeden Aspekt seines Lebens ablichtet? Denn je weniger man (hoffentlich nur im übertragenen Sinne) blankzieht, desto mehr gibt es zu entdecken.

Sehr verehrte Zuhörer, achten Sie stets darauf, dass Ihrem so konzipierten Bild noch zahlreiche Puzzleteile fehlen, die jederzeit eingefügt oder ausgetauscht werden können.

Apr 08, 202149:06
Gedichte? Echt jetzt?

Gedichte? Echt jetzt?

“Wir wollten über Pornos sprechen!”, rufen Dr. D. und Katrin M. “Nicht über Gedichte.” Ja, warum eigentlich Lyrik? Das fragen sie sich gemeinsam mit Dr. B., während sie auf dem Balkon einer Stuttgarter Altbauwohnung im spärlichen Schatten der Tomatenpflanze sitzen. Dr. B. muss während der gesamten Aufnahmen einen Kinderregenschirm über die Köpfe der Damen halten, damit sie nicht in der Sonne schmelzen. “Ja, warum eigentlich nicht über Gedichte sprechen?”, frage ich mich, das Millennial; ein Wort, das bei Dr. B. oft Schweißausbrüche auslöst. Im gleichen Zug schreibt er für die Kategorie Burning the Midnight Oil einen Text, in dem er über sein Alter klagt; die Jugend, die so kurz war und den schwachen Trost, dass es uns allen irgendwann so ergehen wird - aber unsere Generation nervt. Schon klar. Manchmal wirklich. Im Sommer teilte meine Cousine - ebenfalls Mitte 20 - folgende Weisheit mit mir: “Ja, Literatur ist, glaub’ ich, irgendwie over.” Wenn das für Literatur gelten sollte, dann gilt das für Gedichte allemal, aber wieso? Fehlt die Zeit? Nach einem 8-Stunden-Tag haben die wenigsten Lust und Nerven, ein Gedicht zu lesen und zu verstehen. Oder sind sie dem eigenen Alltag einfach zu fremd? Aber ist nicht beispielsweise Rilkes Der Panther aktueller denn je? Die Band AnnenMayKantereit verarbeitet diese Zeilen in ihrem Song, aber wer erkennt diese Referenz überhaupt noch, wenn Leadsänger Henning von seinem müden Blick und tausend Städten singt, hinter denen es keine Welt gibt? Vielleicht gehört Rilke den Intellektuellen, vielleicht noch den Künstlern, aber da hört es meist auf. Doch bleibt dann wirklich nur noch diese furchtbare Pseudo-Poesie, die einem als Wandtattoo “Lächle und die Welt verändert sich.” entgegenschreit, oder Instagram Captions, die mir etwas von “Good vibes only” erzählen? Vielleicht sind Gedichte gar nicht “over”, vielleicht sind sie nur leiser als all diese künstliche Wortaufplüscherei. Eine Antwort habe ich nicht.

Jetzt aber zurück zu der Generation, die uns so furchtbar findet. Hat sie eine Antwort, oder geht’s dann doch nur um Pornos? Mit dem Alter kommt ja angeblich auch die Weisheit, oder, Dr. B.?

Dec 19, 202042:26
Ein Bild, auf dem es nichts zu sehen gibt oder: Der kalte Rausch der Kommunikation - Leif Randts "Allegro Pastell”

Ein Bild, auf dem es nichts zu sehen gibt oder: Der kalte Rausch der Kommunikation - Leif Randts "Allegro Pastell”

"Die Obszönität beginnt, wenn es kein Schauspiel, keine Szene, kein Theater, keine Illusion mehr gibt, wenn alles dem kalten, unerbittlichen Licht der Information und Kommunikation ausgesetzt ist. Wir erleben nicht mehr das Drama der Entfremdung, wir erleben die Ekstase der Kommunikation."

Aus: Das Andere Selbst von Jean Baudrillard, erschienen im Jahr 1987

Wir haben rüber gemacht, haben den Wertachstrand und die goldenen Sonnenuntergänge Oberhausens hinter uns gelassen, um jenseits der Alpen im gleissenden Licht der Grossstadt zwischen Bankentürmen und Versicherungswolkenkratzern abzutauchen. Hier in Zürich gibt es dreckiges Geld und saubere Luft, schlechte Brezen und guten Kaffee. Es gibt Subkultur und Überpopulation.

In einem Café sitzend, sich den letzten Sonnenstrahlen des Sommers hingebend, verschlingt Dr. B seine softscrambled eggs auf sourdough bread binnen weniger Minuten. Er hat immer noch Angst, dass sich wieder diese unsichtbare Hand um seinen Hals legt und zudrückt. Katrin M. hat das auf der Fahrt schon beobachtet: Denn sobald sie auf Tanja und Jérôme zu sprechen kommt, fängt Dr. Bs Gesicht an, Rot zu werden und zu zucken. Aber es muss sein, sie kann ihm diese Diskussion jetzt nicht ersparen.

Dr. B und Katrin M. brauchen Neutralität und die Idee von Basisdemokratie, um über Tanja und Jérôme zu sprechen, über das Buch «Allegro Pastell». Der Roman von Leif Randt begleitet Tanja, eine Romanautorin und Jérôme, einen Webdesigner, zwischen Frankfurt und Berlin – long distance, alles andere wäre für die beiden auch keine Option. Tanja und Jérôme, sie sind voller Liebe füreinander, aber vor allem für sich selbst. Und das zelebrieren sie. Ebenfalls und ausschließlich für sich selbst.

Das Café, in dem sich Dr. B und Katrin M. befinden, liegt im Kreis 4, mitten in Zürich. Unweit der Bäckeranlage versteckt sich das grün gekachelte Gebäude zwischen Grundschule, Saunaclub und gehobener Weinhandlung. Nackte Betonwände, reduziertes Mobiliar, im Hinterhof weisse Plastikgartenstühle. Hier würde es auch Jérôme und Tanja gefallen. Nur Steckdosen gibt es zu wenig, fast keine eigentlich, deshalb werden Dr. B und Katrin M. später den Ort wechseln müssen.

Während das heiße Wasser eine Schneise durch die frisch gemahlene Hondurasbohne gräbt – Katrin M. wartet ungeduldig auf den zweiten Kaffee – wischt sich Dr. B den Mund mit einer braunen Papierserviette ab, checkt noch schnell den Akku des Aufnahmegerätes und drückt dann auf Play.

Nov 04, 202036:08
Was Literatur kann!

Was Literatur kann!

Der Schatten wandert mit der Drehung der Erde. Auf dem Balkon der Stuttgarter Altbauwohnung hat sich der Schatten der Tomatenpflanze mittlerweile länglich in Richtung Osten verschoben. Dr. Franzi D. und Dr. B. rücken ihm nach, aber etwas ist bei ihnen geblieben. Sie diskutieren eine Frage, die ihnen aus dem letzten Gespräch gefolgt ist: Wieso sollten wir noch Bücher lesen, wenn es viel leichter ist, einen der vielzähligen Streaming-Dienste aufzurufen, sich zurückzulehnen und berieseln zu lassen, während ein Buch immer mit Arbeit verbunden ist? Wenn ich lese, muss ich mich auf das Buch einlassen und anderen Ablenkungen entsagen. Dann müssen sich meine Augen mit den Buchstaben auf dem Papier begnügen, obwohl sie gerade lieber durch den Instagram Feed gleiten würden - was nicht unbedingt befriedigender, sondern schlichtweg einfacher ist. Dr. B. hat mir gestanden, dass er sich in letzter Zeit kaum noch auf Bücher konzentrieren kann und bis spät nachts ausschließlich First Dates auf Facebook schaut. Das sei unbefriedigend und man fühle sich überhaupt nicht angenehm müde wie nach dem Lesen, sondern nur erschöpft und leer.

Filme und Serien haben, trotz ihrer Beliebtheit, oft einen schlechteren Ruf als Bücher, besonders wenn es sich dabei um eine Adaption eines Buches handelt. Das mag in manchen Fällen wahr sein, aber gilt das wirklich immer? Kann ein Film nicht mindestens genauso gut sein, wie das Buch, auf dem er basiert? Vielleicht liegt der erste Fehler schon darin, diese beiden Medien miteinander zu vergleichen.

Erzählen müssen wir jedenfalls immer. Doch die Art des Erzählens scheint sich dauernd zu wandeln. Zeitgenössische Literatur erzählt nicht mehr im Stil Thomas Manns und wenn sie das versuchte, könnte ihr das überhaupt gelingen?

Sep 13, 202025:53
Lesen versus Netflix

Lesen versus Netflix

Ein brauner Topf, aus dem eine Tomatenpflanze wächst, steht auf dem Balkon einer Stuttgarter Altbauwohnung und wirft Schatten. Die grünen Blätter der Pflanze ragen schräg in die Luft, und die Tomaten sind in der Sonne rot und dick geworden. Dr. Franzi D. und Dr. B. haben an einem warmen Sommertag im Schatten dieser Pflanze über Lennart Loß’ Roman Und andere Formen menschlichen Versagens gesprochen und darüber gestritten, ob es sich hier denn wirklich um einen Roman handelt. Das Buch ist dünn und weiß, und sein Cover ziert ein blau, lila, gelber Tintenfisch. Er sieht gut aus - in der Hand, der Sakkotasche oder auf dem Schoß im Cafe. Damit kann man sich sehen lassen.

Aus dem Gespräch ergibt sich aber eine viel essentiellere Frage: Warum sollten wir überhaupt noch lesen, wenn wir nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen, und Filme und Serien immer und überall verfügbar, und viel leichter zu konsumieren sind? Auch sie erzählen uns von Geschichten und Welten, in die wir beizeiten fliehen können. Alles, was wir tun müssen, ist hinsehen. Ein Buch hingegen muss gelesen werden, und das ist mit Arbeit verbunden. Wenn es sich um ein gutes Buch handelt, dann bleibt es bei uns. Dann schleichen sich Teile seiner Welt in unseren Alltag ein. Sie legen sich wie ein Filter über unseren Blick und sie verweilen. Als ich mit ungefähr 10 Jahren Ronja die Räubertochter gelesen habe, war ich Ronja - zumindest für ein Vierteljahr. Ich habe kleine Höhlen aus Schulbüchern, Decken und Kissen gebaut und meiner Mutter den Eintritt verboten. Ich habe meine Haare verwuschelt, weil ich genauso wild und rebellisch sein wollte. Oft war ich im Wald und bin geklettert, habe kleine Stöcke und Steine gesammelt, mit nach Hause genommen, einen Bogen gebastelt und eine Feuerstelle auf meinem orangen Teppich gebaut. Meine Höhle war die Bärenhöhle, in der Ronja und Birk sich vor ihren Eltern verstecken. Ich hatte nicht ihren Mut, aber ihre Höhle. Zuhause, nicht im Wald, aber den Unterschied spürte ich gar nicht.

Filme und Serien können sowas auch, aber anders. Wenn ich lese, sind meine Gedanken freier. Dann sieht Ronja mir irgendwie ähnlich, und die Bärenhöhle sieht ein bisschen so aus wie meine. Bei Film oder Serie sieht alles so aus, wie es sich ein anderer gedacht hat. Ich muss es mir nur ansehen. Eine Welt, die ich mir selber gebaut habe, bleibt länger bei mir, denn ich baue sie nach und nach, Seite um Seite. Ich baue sie in meine Welt, und somit ist sie unmittelbarer und viel näher als alles, was durch einen Bildschirm von mir getrennt ist. Das Buch konkretisiert sich nicht, es bleibt in der Fantasie aktualisierbar. Aber lohnt sich ein Buch eigentlich nur, wenn es bleibt? Auch darüber sind sich Dr. D. und Dr. B. nicht einig.

Jun 29, 202032:36
Das Verlangen nach Kaffee und Zigaretten

Das Verlangen nach Kaffee und Zigaretten

Katrin und ich sitzen am Fluss, werden von Enten attackiert, und geraten beim Sprechen über Ferdinand von Schirachs Textsammlung "Kaffee & Zigaretten" in ein Gewitter. Wir sprechen darüber, wie man leben sollte in diesem kurzen Leben, wie der Erzähler über das Leben und seine Bedeutung spricht und was Heimat bedeutet. Außerdem kann man an der Wertach super knutschen, sagt Katrin M.

May 17, 202056:21
Sternekoch Simon Lang über Schönheit als Schutzschild gegen die Hässlichkeit in der Welt

Sternekoch Simon Lang über Schönheit als Schutzschild gegen die Hässlichkeit in der Welt

Es ist Sommer in Augsburg, und das Leben ist in den Straßen. Man trifft sich in Parks, Cafés, vollen Gassen oder Biergärten. Zwei Freunde schlendern die Spitalgasse entlang - das Kopfsteinpflaster unterm Fuß - und gelangen, kurz vor der Bäckergasse, zum Gasthof „Zum bayrischen Herzl”. In dessen Hinterhof haben sich Menschen zusammengefunden, um gemeinsam zu speisen und den warmen Sommerabend zu genießen. Inmitten dieser Begegnungen sprechen die Freunde zwischen Weißbier und deftigen Speisen über Essen, Schönheit, Erinnerung, Kindheit und die Macht der Sinne. Ihr erstes Zusammentreffen liegt weit in der Vergangenheit. Kennengelernt haben sie sich vor mehr als 30 Jahren im Kindergarten und Freunde sind sie bis heute. Ihre Lebenswege scheinen auf den ersten Blick sehr verschieden, aber ihre Berufung verbindet sie. Beide verfolgen ein ästhetisches Programm, nur auf unterschiedliche Weise. Schönheit ist für beide eine Lebensweise, eine Art in der Welt zu sein. Was für den einen Literatur, ist für den anderen die Kochkunst. Durch das Literaturhaus haben sie von Zeit zu Zeit die Möglichkeit, ihre Interessen zu vereinen. Zwei Lesungen, zwei Gerichte und eine multisensorische Erfahrung für jeden Besucher. Wenn Eckhart Nickel aus seinem Roman Hysteria vorliest, und der Zuhörer den Geschmack des Nachibirnencapaccios, das die Protagonisten in einer Pflanzschule genießen, nicht nur erahnen muss, sondern auch schmecken darf, dann ist die Grenze zwischen Fiktion und Realität für einen kurzen Augenblick aufgehoben. Essen verbindet und berührt. Darüber sprechen Dr. B. und Simon Lang beim gemeinsamen Mahl in bayrischem Ambiente. Simon Lang ist Küchenchef im Drei Mohren Hotel in Augsburg. Das dort ansässige Gourmetrestaurant Sartory wurde im letzten Jahr zum ersten Mal mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Dieses Jahr konnte der Stern erfolgreich verteidigt werden und das Literaturhaus Augsburg gratuliert Simon und seinem Team ganz herzlich.
In einer wunderbaren Sommernacht also sprechen die beiden Freunde über Ästhetik und Kulinarik und darüber, wie wichtig es ist, das Leben zu zelebrieren. Ein Geruch, ein Geschmack, das Geräusch von Gläsern beim Anstoßen - in jeder Wahrnehmung verbirgt sich eine Tür - vielleicht auch nur ein Fenster - zur Vergangenheit. Erinnerungen werden lebendiger, wenn wir sie riechen, schmecken oder hören. Beinahe meint man, für nur einen Augenblick zurückkehren zu dürfen.

Mar 22, 202057:19
Das Klagelied der Millennials

Das Klagelied der Millennials

Scheiß auf Ironie! Setz Dich aufs Spiel! Mehr Leidenschaft, Emotion und Risiko, bitte schön! So klingt das bei Simon Strauß. In Sieben Nächte bringt der junge Autor seinen Unmut über seine eigene Generation zum Ausdruck. Katrin und ich verstehen das nur begrenzt. Am 15. Januar sprechen wir mit ihm im Römischen Museum in Augsburg über das Leben, das Schreiben, und darüber, wer wir sind und sein möchten.

Wir sind für eine kleine Weile in der Nähe des Literaturhauses zusammengekommen, um erneut über das Leben zu sprechen. In kurzer Entfernung zum Fluss, gleich bei den Gleisen und der alten Bahnschranke, deren blau-rote Streifen vollständig ausgeblichen sind. Abgeblätterte Farbteile liegen im Gras. Unser Treffen wird unwirklich gewesen sein, je länger es vergangen sein wird und je älter wir geworden sein werden. Wenn wir alt werden sollten, wird unser Gespräch Pate stehen für eine Zeit, „in der wir das Literaturhaus gemacht haben“ und als Teil unserer Vergangenheit, der nicht mehr verfügbar ist, im Schein seines sich Entziehens umso glorreicher und schöner erscheinen.  Wir haben über den Verlust der Zeit gesprochen. Über die „grasgrüne Vorzeit“, nach der man sich immer zurückgesehnt haben wird, die immer schöner wurde, je weiter sie sich entfernte. Die Verantwortung, die man im Leben einst übernommen haben wird, wird uns niemals von der Sehnsucht nach dem Urzustand, nach dem nicht Gewordenen, befreit haben. Egal, auf welche Weise wir unser Leben verwirklicht haben werden, mit Familie oder ohne, mit Karriere oder ohne, nur der Tod wird uns mit dem Teil des Lebens vereinigen, den wir, während wir leben, im Hintergrund immer nur als Wehmut und Sehnsucht rauschen hörten. Es ist diese grasgrüne Vorzeit, der Verlust, der an unser Menschsein gebunden ist, der uns letztlich allein, auf uns selbst zurückgeworfen, zurücklässt. Wir haben über die Möglichkeit eines Lebens gesprochen, die diesen Verlust aufhebt, ein Leben, das man heldenhaft lebt, aufs Spiel setzt, bevor man aufgibt, um doch ein echtes Leben zu leben. Oder sollte man doch alles riskieren und aussteigen? Verstecken wir uns hinter der Ironie, weil wir zu feige sind für Leidenschaft und Emotionen? Oh ja, und wir sind Katrin M. und Stefan B.

Mar 22, 202001:03:46
Japans Ästhetik der Schatten

Japans Ästhetik der Schatten

Wir haben uns unweit des Literaturhauses getroffen. In kurzer Entfernung zum Fluss mit den Silberweiden, die am Rand des Ufers im Wind stehen, gleich bei den Gleisen und der alten Bahnschranke, deren rot-weiße Streifen vollständig ausgeblichen sind. Abgeblätterte Farbe liegt im Sand. Wir haben über Schönheit, Licht und Dunkel gesprochen. Über die makellosen Oberflächen hierzulande, die lichtdurchfluteten Räume, die alles offenlegen, und über Japans Ästhetik der Schatten, die Teile des Lebens bewusst im Verborgenen belassen, über die Schönheit des Halbdunkels und des Gebrauchten gegenüber dem Taghellen und Tadellosen. Wir haben über eine japanische Porzellanschale nachgedacht, die zerbrochen und erst repariert ihren wahren Wert erhält, durch ihre einmalig verlaufenden Risse, die mit Gold aufgefüllt werden. Eine einzigartige Zeichnung, entstanden im Bruch. Im Zwielicht erhascht der Gast einen kurzen Schimmer der vergoldeten Risse am Boden der Schale, die nur dadurch nicht protzig wirkt, dass sie nicht im vollen Sonnenlicht steht. Die in der Suppe schwimmenden Gemüsesorten werden nicht den Augen, sondern einzig dem Geschmackssinn überantwortet. Im alten Japan wird im schummrigen Kerzenschein serviert, während dustere Restauranträume hier bereits Geschichte sind.  Warum könnten wir in Sachen Schönheit nach Japan blicken? Wir haben darüber gesprochen, wie man in Japan in der Welt ist. Oh ja, ich habe ganz vergessen zu erwähnen, wer wir sind. Das ist Katrin M. und ich bin Dr. B.

Mar 22, 202038:54